taz.de -- Entscheidung zu strengeren Corona-Regeln: Merkel schlägt Freizeit-Lockdown vor

Ab 13 Uhr debattieren die Ministerpräsident*innen und die Kanzlerin über schärfere Coronamaßnahmen. Ein Positionspapier aus dem Kanzleramt liegt der taz vor.
Bild: Der Lockdown als letztes Mittel? Kanzlerin Merkel nach einer Telefonschaltkonferenz im April

Berlin dpa/taz | Die Bundesregierung will mit Kontaktbeschränkungen noch vor Weihnachten die massiv steigenden Corona-Infektionszahlen in den Griff bekommen. Bundesweit sollen Freizeiteinrichtungen und Gastronomie geschlossen, Unterhaltungsveranstaltungen verboten und Kontakte in der Öffentlichkeit sowie Feiern auf Plätzen und in Wohnungen eingeschränkt werden. „Ohne solche Beschränkungen würde das weitere exponentielle Wachstum der Infiziertenzahlen unweigerlich binnen weniger Wochen zu einer Überforderung des Gesundheitssystems führen“, warnt das Kanzleramt in einem Positionspapier, das der taz vorliegt.

Noch sind die Maßnahmen allerdings nur Vorschläge: Heute ab 13 Uhr schaltet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) per Videokonferenz mit den Ministerpräsidenten zusammen, die über Maßnahmen in ihren jeweiligen Bundesländern entscheiden. Unterschiedliche Regeln in einzelnen Ländern sind, wie bisher, also weiterhin denkbar. Laut Robert-Koch-Institut meldeten die Gesundheitsämter am Mittwoch 14.964 neue Corona-Infektionen, das ist ein neuer Höchstwert.

Die Gesamtzahl der Fälle in Deutschland wurde auf der Webseite des RKIs zunächst nicht aktualisiert. Am Dienstag lag sie bei 449.275 Fällen. Die Zahl der Toten wurde auch nicht aktualisiert, sie lag am Dienstag bei 10.098 Fällen.

Zuletzt sprachen sich auch einige Bremser [1][für schärfere Maßnahmen] aus, etwa Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff (CDU). Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) sagte allerdings noch am Dienstag der Thüringer Allgemeinen, vor der Veröffentlichung des aktuellen Papiers, einem Beschluss für einen neuen Lockdown werde er aus grundsätzlichen Erwägungen nicht zustimmen. „Wir reden hier von massiven Eingriffen in die Grundrechte“, sagte Ramelow.

Die Bundesregierung schlägt vor, dass die neuen Maßnahmen ab 4. November deutschlandweit in Kraft treten und bis Ende des Monats gelten. Nach Ablauf von zwei Wochen sollen Kanzlerin und Länderchefs die erreichten Ziele beurteilen und notwendige Anpassungen vornehmen. „Familien und Freunde sollen sich auch unter Coronabedingungen in der Weihnachtszeit treffen können. Dazu bedarf es jetzt erneut, wie schon im Frühjahr, einer gemeinsamen Anstrengung“, heißt es in dem Papier. Einige geplante Maßnahmen gleichen den Einschränkungen, die es bereits im Frühjahr während der ersten Corona-Welle gegeben hat.

Die geplanten Maßnahmen im Einzelnen

Öffentlichkeit, Feiern: Nur noch Angehörige des eigenen und eines weiteren Hausstandes sollen sich gemeinsam in der Öffentlichkeit aufhalten dürfen. Verstöße gegen diese Kontaktbeschränkungen sollen von den Ordnungsbehörden sanktioniert werden. Gruppen feiernder Menschen auf öffentlichen Plätzen, in Wohnungen sowie privaten Einrichtungen seien angesichts der ernsten Lage inakzeptabel.

Schulen und Kindergärten: Diese Einrichtungen sollen offen bleiben. Die Länder sollten aber weitere Schutzmaßnahmen einführen.

Einzelhandel: Einzelhandelsgeschäfte sollen unter Auflagen zur Hygiene, zur Steuerung des Zutritts und zur Vermeidung von Warteschlangen insgesamt geöffnet bleiben. Es müsse aber sichergestellt werden, dass sich in den Geschäften nicht mehr als ein Kunde pro 25 Quadratmeter aufhalte.

Unterhaltungsveranstaltungen: Theater, Opern oder Konzerthäuser sollen schließen. Dies gilt auch für Messen, Kinos, Freizeitparks, Spielhallen, Spielbanken und Wettannahmeeinrichtungen. Auch Bordelle und andere Prostitutionsstätten sollen geschlossen werden.

Sport: Freizeit- und Amateursportbetriebe sollen auf und in allen öffentlichen und privaten Sportanlagen geschlossen werden, ebenso Schwimm- und Spaßbäder sowie Fitnessstudios. Über Spiele der oberen Fußball-Ligen wird in dem Papier nichts Konkretes gesagt.

Gastronomie und Hotels: Bars, Clubs, Diskotheken, Kneipen und ähnliche Einrichtungen sollen geschlossen werden. Ausgenommen werden sollen die Lieferung und Abholung von Speisen für den Verzehr zu Hause. Touristische Übernachtungsangebote im Inland sollen untersagt werden. Angebote sollten nur noch für notwendige Zwecke gemacht werden. Die Bürger werden aufgefordert, generell auf private Reisen und auf Verwandtenbesuche zu verzichten.

Körperpflege: Kosmetikstudios, Massagepraxen oder Tattoostudios sollen schließen, medizinisch notwendige Behandlungen wie Physiotherapien aber möglich sein. Friseursalons bleiben – anders als im Frühjahr – aber unter den bestehenden Hygienevorgaben geöffnet.

Wirtschaft: Industrie, Handwerk und Mittelstand solle sicheres Arbeiten umfassend ermöglicht werden, heißt es im Entwurf. Die Arbeitgeber müssten ihre Mitarbeiter vor Infektionen schützen. Wo immer umsetzbar soll Heimarbeit ermöglicht werden.

Hilfe für Unternehmen: Der Bund will Hilfen verlängern und die Konditionen etwa für die Kultur- und Veranstaltungswirtschaft verbessern. Außerdem soll der Schnellkredit der staatseigenen KfW Bankengruppe für Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten geöffnet und angepasst werden.

Risikogruppen: Für Kranke, Pflegebedürftige, Senioren und Behinderte solle es zügig und prioritär Coronaschnelltests geben. Der besondere Schutz in diesem Bereich dürfe aber nicht zu einer vollständigen sozialen Isolation führen.

Kontrollen: Zur Einhaltung der Maßnahmen sollen flächendeckend die Kontrollen verstärkt werden. Zudem sollen Bund und Länder Bürgerinnen und Bürger verstärkt über die Coronamaßnahmen informieren „und durch möglichst einheitliche Maßnahmen die Übersichtlichkeit erhöhen“, heißt es in dem Papier.

Bisherige Reaktionen und Stimmen

FDP-Partei- und -Fraktionschef Christian Lindner twitterte, die Kanzlerin wolle „unter anderem die Gastronomie komplett stilllegen. Das hielte ich für unnötig und deshalb auch für verfassungswidrig.“ SPD-Chef Norbert Walter-Borjans signalisierte Zustimmung, der Präsident des Bundesverband mittelständische Wirtschaft Mario Ohoven warnte vor einem „Todesstoß“ für zehntausende Unternehmen.

28 Oct 2020

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