taz.de -- Neue Musik aus Berlin: Noise-Exzesse mit düsterer Atmo

Noiserock/Postrock: Wie Live-Konzerte im vergangenen Jahr klangen, demonstriert Palm Squirrel. neánder liefert den Soundtrack für düstere Stunden.
Bild: Das Noiserock-Trio Palm Squirrel

Am 25. Mai 2019 war die Welt noch eine andere. Hätte man gewusst, dass eine Zeit ansteht, in der es keine echten Live-Konzerte mit ihrer schönen Mischung aus Bassbrummen, Rückkopplung, Loops, schlechter Luft, Schweiß, Leidenschaft und Exzess gibt, man hätte sich das Noiserock-Trio [1][Palm Squirrel] wohl unbedingt noch mal angeschaut.

Damals spielte die Band um den britischen Sänger und Gitarristen Mathew Johnson in der Neuköllner Noize Fabrik – und es ist eine weise Entscheidung, diesen Auftritt nun als Live-Album zu veröffentlichen.

Die unterschiedlichen Spielarten des Noiserock kommen bei Palm Squirrel gut zur Geltung: es gibt Distortion-Gitarren-Gewummer wie in „Competent People“, es gibt ein Free-Jazz-Sampling-Experiment („FRAN.K“), dreckig-rockig-bluesigere Tracks („Greg Kinnear“, „Interlude U.S. Girls“) und schließlich einen mit Repetition und Stakkato aufgeladenen Song, der am Ende in eine freie Noise-Eskapade mündet („Blamalan“).

Für den freejazzigen Aspekt sorgt hier das live eingesetzte Saxofon (Frank Szardenings). Bemerkenswert, was die Herren aus den Effektgeräten und aus den Untiefen ihrer Instrumente herausholen. Hoffentlich bald wieder live und leibhaftig!

Düster und ausufernd

Ein Eremit hat es dieser Tage wahrlich gut, deshalb passt es, dass die Postrock-Metal-Combo [2][neánder] ihr neues Album nach einem solchen benannt hat. Die Mitglieder von neánder sind keine Unbekannten in Berliner Musikerkreisen, sie spielen unter anderem bei den Hardcorepunks Patsy O'Hara und der Stoner-/Sludge-Band Earth Ship, Bassist Jan Korbach ist Teil der Live-Band von Rapper Casper.

Sechs neue, rein instrumentale Tracks haben neánder eingespielt, die Gitarren sind dabei rockig, sphärisch, flirrend, die Drums wuchtig, auf den Punkt. Die Stücke nehmen sich Zeit, klingen angenehm ausufernd, sie bauen sich langsam auf, vollziehen unerwartete Kehrtwenden.

Der düstere Atmo-Faktor beträgt glatte 100 Prozent. Für Fans der Genres Postrock, Black Metal und Stonerrock uneingeschränkt zu empfehlen.

27 Oct 2020

LINKS

[1] https://palmsquirrel.bandcamp.com/
[2] https://linktr.ee/neandereremit

AUTOREN

Jens Uthoff

TAGS

taz Plan
Kolumne Berlinmusik
Neues Album
Musik
Postpunk
taz Plan
taz Plan
taz Plan
taz Plan
taz Plan

ARTIKEL ZUM THEMA

Neues Album von Loop: Das psychedelische Auge ist zurück

Die Londoner Wall-of-Sound-Erotomanen Loop sind wieder da. Sie veröffentlichen nach 32 Jahren ein neues Album: „Sonancy“.

Neue Dokumentation über Noise-Musiker: Ein Weg raus aus den Zwängen

Am Anfang war der Schuss: Das Filmfest „Unerhört!“ streamt die Dokumentation „My Life Is a Gunshot“ über den Noisemusiker Joke Lanz.

Neue Musik aus Berlin: Ein Bild des Komikers zum Hören

Italien in Berlin: Das Duo Il Quadro di Troisi legt ein introspektives, freischwebendes Debütalbum vor, gewidmet dem Regisseur Massimo Troisi.

Neue Musik aus Berlin: Langsam wehende Schleifen

Dass Loops ihre ganz eigene Wirkung haben, zeigt die in Rom geborene Berliner Komponistin Marta De Pascalis auf ihrem aktuellen Album „Sonus Ruinae“.

Neue Musik aus Berlin: Ausruhen vom Nichtstun

Am 23. Oktober stellt die Band Gewalt ihre neue EP live vor. Auch die aktuelle 7-Inch ihrer Postpunk-Kollegen vom Trio Liiek ist hörenswert.

Neue Musik aus Berlin: Jazz-Raketen und Klassenkampf

Otis Sandsjö liefern auf ihrem neuen Album „Mauerpark Liquid Jazz“. Black Heino recken die Fäuste für die Arbeiterklasse und das Digitalprekariat.