taz.de -- Die Wahrheit: Sterbliche Überreste auf Tour

Urlaub scheint derzeit unmöglich. Aber wie war eigentlich der letzte? Schön, angenehm und zwiespältig wie ganz Polen.

In meinem Zimmer bin ich allein mit einer Beach-Boys-Platte. Jetzt, da wegfahren keine echte Option ist, versuche ich, Surf-Sounds mit alten Bildern aus meiner Erinnerung zu verbinden, um das zu erreichen, was Gilles Deleuze einmal „immobiles Reisen“ genannt hat: Ohrensessel statt engem Flugzeugsitz, Mietsicherheit statt Sand in Sandalen, Sonnenbrille am Arbeitsplatz.

Statt den Rollkoffer in der Departure Lounge auf die Zehen unschuldiger Passanten fallen zu lassen, lasse ich in der Küche eine explodierende Limonadenflasche fallen; statt vom Sitz am Gang aus eine Stewardess mit knisternden Strumpfhosen zu treten, trete ich vor ein Tischbein, das im Weg steht. Urlaub auf Balkonien, ohne Balkon.

Die letzte Reise vor Corona ging nach Polen an die Ostsee. In Kołobrzeg war es sehr schön, obwohl es wie ein versetztes Deutschland anmutete: Polnische Hotelangestellte kümmerten sich um Deutsche, die sämtlich im Pensionsalter zu sein schienen. Wellnesshotel. Vor Ort gab es Schlagerpartys, eine erstaunlich gute Gastronomie mit Speisekarten, die besser Deutsch beherrschten als so mancher Barista in Neukölln.

Hinter den Hotelneubauten, die einträchtig die klinisch saubere Promenade säumten, standen soziale Prachtbauten, für die das Wort „Platte“ ein Euphemismus wäre. Darin die schon in Trainingsanzügen geborene Stadtjugend, die später einmal in den Hotels arbeiten sollte. Auch wenn alles auf Bob den Sprengmeister zu warten schien: Die Konstruktion war praktisch und erinnerte ein wenig an Spanien. Nur, dass die Plattenbauten schon vor den Bettenburgen da waren.

In der Altstadt von Kolberg, das einst seinen Namen für einen berühmten Durchhaltefilm hergeben musste, als es längst von der Roten Armee eingenommen war, steht ein wie vom Kran gelassen wirkender Dom, dessen Pfeiler im Kirchenschiff unfassbar schief stehen. Es gibt, neben den deutschen Touristen, die nach 70 Jahren nach ihren Wurzeln schauen wollen, ganze Wochenendseminare mit polnischen Statikern, die sich mit heller Freude diese irrwitzige Konstruktion anschauen. Haben ja die Deutschen gebaut. Lassen wir mal so stehen.

Polen ist schon ein komisches Land. Freundlich, aber gleichzeitig kalt und skeptisch; vermutlich ja auch zu Recht. Dabei sehr kirchentreu und konservativ. Das Hotelmanagement ist perfekt durchorganisiert, und eine verloren gegangene Wellnessbereichtasche ist gleich ein ominöser Posten auf der ansonsten spottbilligen Rechnung. Der nach fachgerecht deutscher Beschwerde im Nachhinein per elektronischer Post auch wieder von derselben verschwindet.

Ach, es war auch angenehm. Mittelalte Herren unterhielten sich mit ostdeutschen Studentinnen im Chillout-Raum, den sonst nur angenehmes Schnarchen füllte. Fahren Sie nach Polen, wenn Corona vorbei ist, es ist nur ein Land weiter, es gibt nicht mal Zeitumstellung.

18 Aug 2020

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René Hamann

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