taz.de -- Corona in Kolumbien: Flucht nach Hause

Hunderte Venezolaner*innen sind in Kolumbien arbeitslos geworden und gestrandet. Sie wollen in ihre Heimat zurückkehren – notfalls auch zu Fuß.
Bild: Eine Migrantenfamilie aus Venezuela wartet auf Einlass am Eingang des Nord-Busbahnhofs in Bogotá

Bogotá taz | Schwarze Müllsäcke, Klebeband, Schnüre, ein paar Äste: Daraus bestehen die Zelte, in denen Hunderte Venezolaner*innen in Bogotá seit Tagen am Terminal del Norte ausharren – in der Hoffnung auf einen Bus nach Venezuela.

Auf dem Grünstreifen gegenüber dem Nord-Busbahnhof in Bogotá sind sie gestrandet. Es werden immer mehr. Dicht an dicht reihen sich die selbst gebauten Notunterkünfte aneinander. Als Toilette dienen drei um einen Baumstamm in den Boden gerammte Äste, um die sie ein Bettlaken als Sichtschutz gespannt haben. Zwischen der Notsiedlung und dem Busbahnhof donnern Lastwagen über die dreispurige Stadtautobahn.

„Ich will nur nach Hause“, sagt Adriano José Mendoza. Das ist die Stadt Valencia in Venezuela. Der 19-Jährige ist verzweifelt. Seit zwei Wochen ist er hier. Der Elektroingenieur arbeitete in Bogotá als Barbier. Dann kam [1][das Coronavirus und mit ihm die Quarantäne]. Er verlor wie so viele hier seine Arbeit und wurde aus der Wohnung geworfen, weil er die Miete nicht mehr bezahlen konnte.

Die Bogotaner Nächte sind kalt – und gerade werden auch die Tage immer kälter und verregneter. Die Menschen am Busbahnhof werden immer verzweifelter. Die Statistik am Mittwoch, die sie selbst erstellt haben: 475 Menschen, darunter 90 Kinder und 10 hochschwangere Frauen. Von den 475 haben 348 keinen einzigen Peso für die Busfahrkarte, 127 hätten Geld, kommen aber trotzdem nicht weg.

Papiertüte mit Essen

„Wir sind Venezolanos und fahren Richtung Venezuela. Wir brauchen bitte deine Hilfe. Danke“ steht auf einem Pappschild, das eine Frau den vorbeifahrenden Autos entgegenhält. Ab und an hält jemand an und reicht eine Papiertüte mit Essen durchs Fenster.

Über 5 Millionen Menschen haben in den vergangenen Jahren Venezuela verlassen. Die meisten gingen ins Nachbarland Kolumbien. Über 1,8 Millionen Venezolaner*innen lebten zu Beginn von Corona nach Angaben der kolumbianischen Migrationsbehörde im Land, fast jede*r Fünfte in Bogotá.

Die Quarantäne-Bestimmungen wegen der [2][Coronapandemie] treffen sie besonders hart. Die meisten arbeiten ohne soziale Absicherung. Deshalb ist zum ersten Mal seit fünf Jahren die Zahl der Venezolaner*innen im Land gesunken – um 0,9 Prozent, meldete die Behörde Ende Mai.

Die offiziellen Grenzübergänge sind wie der Luftweg seit Wochen geschlossen. Trotzdem sind bis Ende Mai fast 68.000 Venezolaner*innen in ihre Heimat zurückgekehrt. Mit 883 offiziellen humanitären Bussen – und zu Fuß.

Tickets dreimal teurer

Die Ticketpreise haben sich verdreifacht, erzählen die Migrant*innen. Es gebe viel zu wenige Busse. Nur die Hälfte der Plätze darf wegen Corona besetzt werden. Wer ein Ticket kaufen will, muss sich vorher bei den Behörden melden und auf der Internetseite des Busbahnhofs für die Sonderfahrten registrieren.

Selbst dann gibt es keine Garantie: „Wir stehen schon acht Tage auf der Liste und warten“, sagt eine junge Frau. „Aber wir haben nicht so viel Geld, also mussten wir aus der Wohnung raus, damit wir nicht unser Fahrtgeld aufessen.“

„Die Kolumbianer wollen uns Venezolaner nicht hier haben“, sagt Dayron (23) wütend. „Wir wollen gehen. Aber jetzt wollen sie uns nicht gehen lassen!“ In Venezuela hat er eine Wohnung, in Bogotá nicht mehr, sein Geld reicht nur für das Bustickets für sein Baby und seine Frau. Er will zu Fuß gehen.

In ihrer Not laufen viele einfach los – was in Zeiten von Quarantäne verboten und auch sonst gefährlich ist. Der Weg führt über eisiges Hochgebirge und Gebiete, in denen kriminelle Banden und Menschenhändler lauern.

Auf Pappen und Decken

Vor gut zwei Wochen waren am Busbahnhof statt fast 500 nur um die 90 Menschen, die auf die Heimfahrt warteten, die meisten junge Familien mit Kindern. Sie saßen auf Pappen und Decken. Doch die Polizei hat die Menschen vertrieben, weil sie Beschwerden von McDonald’s und der Tankstelle gegenüber bekommen habe, sagt Adriano José Mendoza. „Dabei haben wir nichts gemacht, außer uns hinzusetzen und zu warten.“

Das Bogotaner Sozialamt habe den Menschen eine Herberge angeboten, schreibt ein Sprecher der Migrationsbehörde der taz. Doch hätten diese sich geweigert. Demnächst würden Mitarbeiter*innen der Internationale Organisation für Migration (IOM) und des Roten Kreuzes kommen. Jeden Tag hätten Einrichtungen ihnen Essen gebracht. Die Menschen am Busbahnhof berichten, dass die Einzigen, die ihnen halfen, normale Bürger*innen waren.

Seit Monaten schlägt das UN-Flüchtlingshilfswerk Alarm, Aufnahmeländer wie Kolumbien nicht alleinzulassen – gerade während der Pandemie. Die 1,8 Millionen Venezolaner*innen belasten das Sozial- und Bildungssystem, das unter anderem mit den Folgen von über 50 Jahren bewaffnetem Konflikt fertig werden muss. Bei einer Geberkonferenz kamen vergangene Woche über 2,5 Milliarden Euro Hilfsgelder zusammen, dazu rund 600 Millionen Euro an Zuschüssen. Deutschland sagte 20,2 Millionen Euro zu.

Die Situation in Venezuela verschärft sich. „Wir schätzen, dass 80 Prozent der Migrant*innen wieder nach Kolumbien zurückkehren werden“, sagt der Leiter der Migrationsbehörde. Wann, hänge von der Entwicklung der Pandemie ab. Den meisten Menschen am Busbahnhof ist das egal. Zu Hause ist die Familie – und sie müssen keine Miete zahlen.

9 Jun 2020

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AUTOREN

Katharina Wojczenko

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