taz.de -- Freunde besuchen in Corona-Zeiten: Lamentieren wegen der Bundesliga

Mein Freund ist seit der Corona Krise wieder besser gelaunt. Sagt aber, es läge an den längeren Tagen.
Bild: Video-Pressekonferenz des Deutschen Fußball-Bundes wegen der Corona Pandemie mit Jogi Löw

Ms Tür ist schon offen. Wie immer sitzt er neben seiner Ottomane im Rollstuhl. Wie immer gehe ich erst mal in die Küche, um mir einen Orange-Ingwer-Tee zu machen, während er den Fernseher ausmacht.

Die Wochen zuvor war mein Freund oft mutlos und hatte gejammert über Schmerzen und die kurzen Tage im „Winter“, er hatte das Gefühl, sein Leben sei vorbei. Seitdem die Coronaviren durch die Gegend ziehen, ist er wieder besser gelaunt und wacher. Er sagt, das liege aber vor allem daran, dass die Tage wieder länger werden. Ich berichte von den vergangenen Tagen, was draussen und im Internet so los ist.

Wir lamentieren ein wenig wegen der ausgefallenen Bundesliga, auf die wir uns so sehr gefreut hatten. Er erzählt von früher und dass er eigentlich schon immer Stubenhocker gewesen sei. Ich sage, das stimmt doch nicht, du hattest doch oft eine Stammkneipe. Er sagt, Stammkneipe gehört zum Stubenhocken.

Immer nur allein zu Hause runhocken

Während ich noch auf einem engen Stubenhockerbegriff bestehe, der sich nur auf das eigene Zimmer bezieht – alone in my room, ich kann mich auch alleine beschäftigen –, finde ich seinen Stubenhockerbegriff immer plausibler. Das Interview einer ostdeutschen Mutter fällt mir ein, die gesagt hatte, am schlimmsten hätte sie es gefunden, wenn man immer nur allein zu Hause rumhockt.

Neben seinem Fernseher liegt die UZ, die Zeitung der DKP, deren erste Seite, mit Putin und Erdoğan als Fluchtverursacher, ihm so gut gefällt, dass er sie von mir einrahmen lassen möchte. Wie die Bücherregale und der kniehohe Stapel mit alten Zeitungen ist auch die UZ sozusagen ein fleischgewordenes Posing, das sich auf seine Nachkommen übertragen hätte, wenn alles anders gelaufen wäre. Die Gießener DKP-Zeitung hat er auch abonniert, weil er deren Chefredakteur Michael Beltz, den Bruder des bekannten Sponti-Kabarettisten, von früher kennt.

Ich habe tatsächlich – nach Wochen – daran gedacht, einen Nagel mitzubringen, hänge aber erst ein anderes Modezeitschriften-Cover auf. Wir haben Zeit, wir rauchen ein bisschen, beim Schach passieren keine groben Patzer.

Krankenschwester Kathy lutscht Corona Virus einfach fort

Ich erzähle von dieser Pornoseite, die allen ItalienerInnen Premiumaccounts geschenkt hat, von den Striplokalen in den USA, die als letzte zugemacht haben, von den Berichten über Corona-orientierte Pornos (mit OP-Masken) und davon, dass es noch viel mehr Pornos gibt, die sich inhaltlich zwar nicht auf Corona beziehen, sondern nur schlicht automatisiert ein „Corona“ in die Titelzeile kopiert haben, was teils durchaus charmant klingt: „Krankenschwester Kathy lutscht Corona Virus einfach hinfort.“

Wie immer sage ich gegen halb sieben, ich geh jetzt wieder, wie immer fragt er, ob ich zuvor noch zwei drehen kann; einen zum Abschied und einen für später. Dann schickt L. eine Nachricht, ob ich Hilfe bräuchte. Ich bin ein bisschen überrascht, hatte noch gar nicht realisiert, dass auch ich zur Risikogruppe gehöre.

21 Mar 2020

AUTOREN

Detlef Kuhlbrodt

TAGS

Kolumne Berlin viral
Alltag
Quarantäne
Kolumne Berlin viral
Schwerpunkt Coronavirus
Kolumne Berlin viral
Kolumne Berlin viral
Schwerpunkt Coronavirus
Kolumne Berlin viral

ARTIKEL ZUM THEMA

Spätere Erinnerung an die Coronazeit: Das Virus museal gesehen

Was werden die Bilder, was die Schicksale sein, die später für die Zeit der Kontaktsperre stehen? Rundgang in einem imaginären Museum.

Kolumne Berlin Viral: In der Not auf Adorno zurückgreifen

Eindrücke beim Kaffeekauf in Kreuzberg 36. Welche Theorietexte jetzt helfen, und welche eher nicht.

Einkaufen war schon immer eine Plage: Das Virus zeigt nur, was ist

Die Krise könnte uns dazu bringen, unser Gegenüber nur noch als Zumutung zu begreifen, wird gewarnt. Aber hat es dafür wirklich das Virus gebraucht?

Berliner Kneipen nach Corona: Wenn sogar Schlawinchen schließt

Das Schlawinchen ist eine Institution. Seit über dreißig Jahren hatte die Berliner Kneipe ununterbrochen offen. Dass sie nun zu ist, sagt alles.

Radfahren in der Corona-Krise: Zwei Passanten ohne jede Empathie

In Mailand ist der Gang zur Mülltonne der einzig legale Ausflug des Tages. In Berlin kann man schön in der Sonne radeln, doch auch da lauert Gefahr.

Bahnfahren in Corona-Zeiten: Der Mann mit der Maske

Wer am Wochenende ICE fuhr, erlebte den Unterschied: Auf dem Bahnsteig noch Misstrauen, im Zug ist Corona vergessen. Wäre da nicht dieser Nachbar.