taz.de -- Große Koalition und Neuwahlen: Zwischen Partei und Regierung
Gerade die SPD ist jetzt besser aufgestellt, um noch zwei weitere Jahre in der Groko zu überleben. Mit einer Arbeitsteilung, von der alle profitieren.
Totgesagte leben länger: Dieses banale Sprichwort passt bestens, um die Zukunft der Großen Koalition zu beschreiben. Auf den ersten Blick scheint die Diagnose klar, die ein Arzt für parteipolitische Krankheiten stellen muss: Die Groko hat keine Chance mehr. [1][Die künftigen SPD-Spitzen Walter-Borjans und Esken] wollen neu über die Koalition verhandeln, während die Union genau dies ablehnt.
Trotzdem wäre es verfrüht, mit Neuwahlen zu rechnen. So angeschlagen der Patient Groko wirkt: Für Union und SPD wäre es unerfreulich, wenn es zu einem Urnengang käme. Denn beiden Parteien fehlt eine geeignete KanzlerkandidatIn.
Die Karriere von Olaf Scholz hat sich an diesem Samstag erledigt. Nach seiner SPD-internen Niederlage kann er zwar Finanzminister bleiben, aber mehr ist nicht mehr drin. CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer wiederum ist bei den WählerInnen so unbeliebt, dass parteiintern längst nach Alternativen gesucht wird.
Noch schlimmer: Beide Regierungsparteien sind in Flügel zerfallen. Bei der SPD verläuft die Front horizontal zwischen Fraktion und Basis, wenn es um die Frage geht, wie „links“ die Partei sein soll. Bei der Union hingegen geht die Spaltung vertikal durch die Partei. Auf jeder Ebene wird um den richtigen Kurs gekämpft, und dieser Dauerstreit beginnt schon ganz oben – mit Schäuble gegen Merkel. Was „konservativ“ sein soll, ist strategisch schwer zu definieren. Rückt man zu sehr nach rechts, könnten viele Unionswähler zu den Grünen überlaufen. Ist man zu mittig, könnte die Union an die AfD verlieren.
Gerade die SPD ist jetzt besser aufgestellt
SPD und Union benötigen Zeit, um ihre Flügelstreitigkeiten auszutragen, an ihren Programmen zu feilen und KanzlerkandidatInnen zu finden. Da wäre es höchst unüberlegt, die Groko enden zu lassen. So paradox es wirken mag: Gerade die SPD ist jetzt besser aufgestellt, um noch zwei weitere Jahre in der Groko zu überleben. Denn es könnte zu einer Arbeitsteilung kommen, von der alle profitieren. Das neue Spitzenduo sorgt fürs linke Programm – während die SPD-Minister pragmatisch regieren.
Bisher gerierten sich die SPD-Spitzenpolitiker, als hätten sie sich in der Partei geirrt. Scholz & Co. waren lange von der CDU kaum zu unterscheiden. Immer wieder kam es zum gleichen Fehler: Kompromisse mit der Union waren zwar nötig, weil es sonst gar keine Koalition gäbe. Aber diese Zugeständnisse wurden anschließend zum einzig Wünschbaren verklärt.
Die Realität mutierte zur Vision, [2][das eigene Profil verschwand.] Gerade weil Walter-Borjans und Esken nicht an der Regierung beteiligt sind, könnten sie den Unterschied zwischen Programm und Kompromiss markieren – und die zwei Jahre Groko nutzen, um den Wählern zu erklären, warum die SPD wichtig ist.
Bleibt eine einzige, aber haarige Frage: Wie kommt die SPD zu einer Arbeitsteilung zwischen Partei und Regierung? Denn Walter-Borjans und Esken haben sich festgelegt. Sie wollen den Mindestlohn auf 12 Euro die Stunde anheben, das Klimapaket neu verhandeln, ein milliardenschweres Investitionsprogramm auflegen und eine Kindergrundsicherung einführen.
Es wäre ein Wunder, wenn sich die Union bereit fände, wenigstens eine dieser Forderungen umzusetzen. Andererseits kann sie eine Neuwahl derzeit gar nicht gebrauchen. Das Spiel beginnt: Wer hat am meisten Angst vorm Urnengang?
2 Dec 2019
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