taz.de -- Stadtrand-Silvester in Berlin: Wenn die Idylle Großstadt spielt

Die pyromanischen Fähigkeiten der Stadtrandberliner sind erstaunlich. Und das, wo sie sonst nicht müde werden, die Ruhe zu loben.
Bild: Eher so hatte sich die Autorin Silvester am Stadtrand vorgestellt

Das erste Silvester nach dem wohl überlegten Umzug in die Vorstadt, 800 Meter nördlich der Stadtgrenze, 7 Gehminuten zur nächsten S-Bahn-Station. Panketal ist eine große Einfamilienhaussiedlung mit okayer Infrastruktur. Ruhig ist es hier, sehr ruhig sogar, im Garten wohnt der Buntspecht.

Aus Angst vor den kritischen Kommentaren der Kinder greifen wir beim Böllerkauf tiefer in die Tasche denn je: Dicke Raketen, die irgendwas mit Pyro und Power heißen, extralange Wunderkerzen, römische Lichter und zwei Riesenpackungen voller Knallerbsen für summa summarum 35 Euro, die Kinder zeigen sich erst einmal beeindruckt.

Schon beim Auspacken der Schätze gegen 14 Uhr fragen sie allerdings, wann es endlich losgeht, es böllert doch schon ganz ordentlich da draußen über den Wipfeln. Gegen 16 Uhr wird es dunkler, der Lärm schwillt an, die Kinder sind kaum noch zu halten. Wie sollen wir sie weitere 8 Stunden bei Laune halten?

Mithilfe von Raclette, Wackelpudding, Wiener Walzer im Wohnzimmer, Dinner for One und erstmals bleifreiem Wachsgießen (kommt viel besser!) geht es endlich auf 24 Uhr zu. Die Straße vor unserem Haus, wo tagsüber die Kinder ohne Bedenken spielen könnten, ist bevölkert wie nie.

Klingt wie Neukölln

Es klingt nach drittem Weltkrieg beziehungsweise Neukölln. Vor den Hauseingängen türmen sich bereits große Haufen abgebrannter Batteriefeuerwerke, doch den Nachbarn scheint die Luft längst nicht ausgegangen zu sein, sie holen immer neue Kartons hervor. Wir lesen Produkttitel, die die Worte Panic, Thunder, Final und Shock enthalten. Mal zählen wir an die 50, mal an die 100 Zündungen.

Manche hier müssen mehrere hundert Euro investiert haben. Dagegen schmieren wir selbstverständlich ab mit unseren lächerlichen Einzelraketen und Wunderkerzen. Macht aber nichts, denn eigentlich haben wir sowieso vor lauter In-den-Himmel-Gucken keine Zeit, nach funktionierenden Feuerzeugen zu kramen.

Zum letzten Mal haben wir vor 15 Jahren einen Kulturschock in Sachen Pyrotechnik erlebt, bei der ersten Reise nach China. Auch wenn man es hätte ahnen können in einem Land, wo selten Ruhe herrscht: Der Krach, wie ihn lange Böllerketten verursachen, die zur Vertreibung der bösen Geister bei jeder Ladeneröffnung um Zäune gewickelt und dann gezündet werden, ist nicht vorstellbar.

Aber warum Panketal? Hier leben vor allem Alte, die zu DDR-Zeiten privilegiert gewesen sein müssen, um den Traum vom Eigenheim auch in Zeiten der Materialknappheit verwirklichen zu können. Hier leben Aussteiger, die vor den Innenstadtmieten geflüchtet sind. Viele beschreiben das Gefühl des Druckabfalls sehr schön, wenn sie vom Arbeiten in Berlin nach Hause kommen. Vielleicht geht es den Nachbarn also einfach nur wie uns: Wenigstens einmal im Jahr darf man noch Sehnsucht nach der Stadt kultivieren.

1 Jan 2019

AUTOREN

Susanne Messmer

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