taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Die Partei des sanften Realismus

Wir reden nicht mehr von 8,4 Prozent, sondern in Bayern von 18, in Baden-Württemberg von 30 Prozent. Warum wächst das Vertrauen in die Grünen?
Bild: Wahlkampfplakat mit Tarek Al-Wazir

Abgesehen von hessischen Bürgern mit handfesten Interessen geht es bei der Landtagswahl in Hessen um die Festlegung einer Stimmung der Zeit. Das Neue: Ihr Gradmesser [1][sind die Grünen]. So erscheinen in diesen Tagen unzählige Artikel: Warum sie jetzt toll sind, warum sie weiterhin blöd sind, was sie für Frisuren haben, warum sie bald abstürzen. Besonders Clevere platzieren Artikel über angeblich grassierenden „Ökowahn“, um Wähler abzuschrecken.

Nun sind wir alle – einschließlich Grüne – weit von sozialökologischer Politik der realistischen Radikalität entfernt, die es braucht, wenn man die Erderhitzung usw. angehen wollte. Der Wahn ist das Fehlen von Klimapolitik. Aber bitte, das ist meine Position.

Die entscheidenden Fragen klären sich jedenfalls nicht zwischen „links“ vs. „rechts“, weil auch das Problem in der digitalen Arbeitswelt nicht mehr die Ausbeutung von Menschen ist, sondern ihre Bedeutungslosigkeit. Die gesellschaftliche Konfrontation verläuft zwischen liberal und illiberal und die politische in letzter Konsequenz zwischen real und irreal.

Präsident Trump und andere zunehmend nationalistische Regierungen müssen die Erderhitzung ignorieren, weil sie nicht in Landesgrenzen zu lindern ist. Sie flüchten ins Irreale. Nun stellt sich das Problem, dass auch die Volksparteien, die die liberale Moderne im 20. Jahrhundert vorangebracht haben, bei den zentralen Zukunftsfragen des 21. Jahrhunderts, also Umgang mit China, Klimawandel und Künstliche Intelligenz keine realistische Politik machen oder zumindest in der Schublade haben.

Errungenschaften der Moderne

Wir haben dadurch ein Vakuum in dem Teil der Gesellschaft, der die Errungenschaften der liberalen Moderne bewahren will, inklusive eigenen Wohlstands – und sich fragt: Wie? Hier gibt es zunehmend eine Projektion von den Grünen als Partei der vernünftigen Leute, die das Alte und das Neue zusammenbringen könnte.

Diese Idee, dass die Grünen bundesweit vernünftige Leute seien, ist eine neue Projektion, aber es ist vor allem auch eine Selbstprojektion.

Deshalb gehen alle Analysen schief, die die alten Grünen-Zuschreibungen und Klischees beschwören, sowohl vom Superökozottel als auch von der verlogenen Biomutti im Plug-in-SUV. Diese Pornofantasien sind genauso gestrig wie die vom neolichthupengeilen FDP-Porschefahrer. Wir reden nicht mehr von 8,4 Prozent, sondern in Bayern von 18, in Baden-Württemberg von 30 Prozent. Kurzum: Die „Grünenwähler“ sind keine Grünenwähler mehr, wie wir sie zu kennen glaubten.

Es sind – ich trau's mich kaum zu sagen – normal vernünftige Leute. Sie wählen die Grünen nicht aus Pietismus, Moralismus oder um sich von ihrer „Sünde“ reinzuwaschen, gut zu leben. Sie wählen sie in der Hoffnung, dieses gute Leben in der liberalen und europäischen Moderne mit Grün eher zu bewahren als ohne. Das ist nicht selbstsüchtig, das ist normal.

Die Grünen werden also nicht mehr gewählt für ästhetische Distinktion und auch nicht mehrheitlich für radikales Ökotum. Sie werden nicht gewählt, damit sich „Lager“ durchsetzen, die es nicht gibt. Sie werden zunehmend gewählt, weil sie die bürgerliche Mitte glasklar gesellschaftsliberal besetzen. Darauf kann man sich verlassen, anders als bei allen anderen Hü-Hott-Parteien. Ihr Alleinstellungsmerkmal aber ist der sanfte Realismus.

Wenn die Leute den hessischen Wirtschafts- und Verkehrsminister Tarek Al-Wazir sehen, dann sehen sie ganz offenbar einen vernünftigen Kerl, dem man vertrauen kann. Auch etwas anvertrauen. Das beinhaltet, Stimmungsstand heute, auch das höchste politische Amt in Hessen.

28 Oct 2018

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Peter Unfried

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