taz.de -- 40 Jahre Berliner Grüne: Mit Protest angekommen
Am 5. Oktober werden die Grünen 40 Jahre alt. Die Anarchos von gestern sind längst Teil des etablierten Politik. Hat das die grüne Seele verändert?
Man muss es sich spannend vorstellen, wenn Antje Kapek mit ihren Eltern über Politik diskutiert. Die Fraktionschefin ist die einzige Grünen-Abgeordnete Berlins, die schon als Kind grüner Parlamentarier aufwuchs. „Mein Vater hält mir immer vor, dass wir heute zu wenig actionreich seien“, sagt Kapek, 42, und seit sechs Jahren an der Spitze der Grünen-Fraktion. Der Vater, das ist Frank Kapek, der von 1987 bis 1989 im Landesparlament saß und so umtriebig war, dass es über ihn heißt: „Das war einer, der die Flüstertüte immer dabeihatte.“
Es ist Wolfgang Wieland, von dem dieser Satz kommt, ihr Vorvorgänger an der Fraktionsspitze, später lange im Bundestag. Kapek kennt der heute 70-Jährige schon, seit sie ein Kind war: Vater Frank war sein Fraktionskollege und etablierte damals in Berlin Protestinstrumente wie Fahrraddemos. Er legte Rollrasen auf die stark befahrene Wilmersdorfer Straße, um gegen überbordenden Autoverkehr zu protestieren.
Da auch 40 Jahre nach der Gründung der Alternativen Liste, kurz AL, und 37 Jahre nach dem ersten Parlamentseinzug 1981 mitzuhalten wäre anspruchsvoll. Antje Kapek mag sich daran aber gar nicht messen lassen: „Damals waren die Strukturen viel verkrusteter als heute, da brauchte man mehr so schrille Aktionen. Heute werden wir auch so gehört.“
Wieland sieht das ähnlich: Nicht dass die Grünen keine Protestkultur mehr hätten – „aber zu versuchen, die damaligen Zeiten künstlich wiederzubeleben, wäre albern“. Wobei ihm dann doch so ein Satz mit einer gewissen Sehnsucht entfährt: „Man war damals grundsätzlich dagegen, hatte aber 100 Ideen, wo ich mir heute wünschen würde, dass wir zehn davon hätten.“
In der taz fällt in vielen hitzigen Diskussionen der Satz: „Dafür ist die taz nicht gegründet worden.“ Auf diese Weise macht sich jemand gerne zum selbst ernannten Treuhänder und Exegeten der Gründungsgeneration. Bei den Grünen entspricht dem der Streit, wo ihre Wurzeln liegen, die aus der AL hervor- und 1993 in Bündnis90/Die Grünen aufging: Ist die Ökologie das Kernthema? Die Friedensbewegung? Bürgerrechte? Frauenemanzipation?
Mit unterschiedlicher Gewichtung stimmt alles. Immerhin kamen zum Gründungstreffen der AL am 5. Oktober 1978 über 3.000 Menschen in die Neue Welt an der Hasenheide in Neukölln. Was oft untergeht: Von diesen über 3.000 Teilnehmern, darunter auch Wieland, unterschrieb an diesem Tag nur ein Bruchteil einen Aufnahmeantrag. Für viele schien nicht vereinbar, wer dort alles zusammensaß, vor allem nicht die sogenannten K-Gruppen, die maoistischen Erbbewahrer in Berlin. Deshalb sucht man auch den oft als Mitgründer bezeichneten Christian Ströbele unter den Namen der Gründungsmitglieder vergeblich – er war zwar an diesem Tag dabei, trat aber erst Anfang 1983 bei.
Was also ist geworden aus der Partei, die das Alternative anfangs ausdrücklich in ihrem Namen führte? Wie fällt sie aus, die Bilanz? Ist es eine Erfolgsstory? Die Chronik eines Erwachsenwerdens?
„Bei null gestartet und in der Regierungsfähigkeit angekommen“, antwortet Wolfgang Wieland.
Bleibt die Frage: Ist das etwas Gutes oder Schlechtes? Zumindest erwartete die Entwicklung damals offensichtlich niemand – weil man es gar nicht wollte: „Wir waren eine Protestpartei jenseits der etablierten Parteien“, sagt Wieland und erinnert Hunderte von Bürgerinitiativen, die die Basis der jungen Grünen-Bewegung bildeten.
Protest, Antiestablishment, alte Strukturen: Heute ist es die AfD, die solche Begriffe für sich reklamiert, und wie die Alternative Liste damals ist sie schnell in die Parlamente gekommen. Damit sind die Gemeinsamkeiten für Wieland aber auch schon vorbei: „Wir waren zum einen nie eine Ein-Thema-Partei wie die AfD. Und wir haben uns nicht gegen Minderheiten gewandt, sondern versucht, für Minderheiten etwas durchzusetzen.“
Das macht die grüne Abgeordnetenhausfraktion auch heute, inzwischen mit 27 Mitgliedern. Das sind deutlich mehr als beim ersten Parlamentseinzug 1981 mit neun Sitzen, aber auch weniger als in der vorigen Wahlperiode mit 29. Sie sieht bloß so viel anders aus als jene Gruppe, die erstmals 1981 ins Berliner Landesparlament kam. Auf Grünen-Fotos von damals prägen lange Haare, wallende Bärte und Strickpullis das Bild. Heute hingegen sitzt Fraktionschefin Kapek stets gut geschminkt und talkshowfähig gekleidet in der ersten Reihe, und auch in der letzten Bank ist Rechtspolitiker Benedikt Lux manches Mal mit Anzug und Krawatte zu sehen.
Alles Äußerlichkeiten, die die grüne Seele nicht verändert haben? Ende August war die Fraktion in Hamburg zur Klausurtagung. Da zog ein über 80-köpfiger Tross – die 27 Abgeordneten samt Mitarbeitern, Referenten und Senatsvertretern – durch Hamburg. Stets pünktlich am Zielort, von Geschäftsführung und Pressestelle zur Pünktlichkeit angehalten. Da war nichts von „Avanti dilettanti“ oder Laisser-faire zu spüren.
Das kann man nun ebenfalls als Äußerlichkeit abtun. Man kann es aber auch mal vergleichen mit dem Landesparteitag der Grünen Ende 2010, als die Partei anstrebte, im folgenden Jahr nicht nur in den Senat zu kommen, sondern mit Renate Künast auch die Regierungschefin zu stellen. Da ging nämlich noch eine halbe Stunde nach geplantem Beginn gar nichts, angeblich war ein Drucker ausgefallen, und es gab nicht genug Stromleitungen.
„Und die wollen regieren?“, witzelte damals eine Journalistenkollegin. Angesichts des dramatischen Absturzes der Grünen in Umfragen von Platz eins bis runter auf den in die Opposition führenden Platz drei bei der Abgeordnetenhauswahl zehn Monate später drängt sich ein gewisser Zusammenhang zwischen besserer Organisation und Wahlerfolg durchaus auf.
Die grünen Themen würden gerade „nicht als der heiße Scheiß der Republik“ wahrgenommen, hat Bundestagsfraktionschefin Katrin Göring-Eckardt vor knapp eineinhalb Jahren festgestellt, als die Partei bei der Wahl im Saarland unterging. Antje Kapek empfindet das anders und hält ihre Partei weiterhin für die kreativste.
Die Berliner Grünen liegen derzeit auch durchaus über ihrem Ergebnis von der Abgeordnetenhauswahl 2016: Statt damals 15 würden nun 18 Prozent für sie stimmen. Anders als im Fall der schwächelnden Sozialdemokraten gibt es auch keine Diskussion, ob die Aufgabe der Grünen erfüllt sei oder ob die Partei noch gebraucht werde – nur, weil ja nun schon so viele Menschen umweltbewusster lebten.
Umweltpolitisch befürwortet zwar auch die hiesige SPD, anders als in Brandenburg, den Kohleausstieg. Aber das fällt ihr natürlich deutlich leichter als ihren Genossen im Umland, weil dieser Schritt in Berlin mangels Abbaurevier keine Arbeitsplätze gefährdet.
Die Grünen hingegen profilieren sich in dieser Stadt auf einem der wichtigsten Felder der Landespolitik: der Verkehrspolitik, die ja auch eine Ökologiefrage ist. Ein echter grüner Erfolg, die Berliner SPD hinter das Mobilitätsgesetz zu bringen. Denn bei den Sozialdemokraten ging die Angst um, man könnte die Autofahrer in Berlin vergrätzen und an CDU und AfD verlieren, wenn man das Radfahren so sehr unterstütze. Tatsächlich bauten die Sozialdemokraten auf den letzten Drücker, kurz bevor das Parlament das Gesetz beschloss, noch einige Passagen ein, die ihre autoaffinen Wähler mit ihnen versöhnen sollen.
Nun hatten die Aktiven des Volksbegehrens Fahrrad viel Vorarbeit geleistet beim Radgesetz, öffentlichen Druck aufgebaut und einen ersten Gesetzentwurf verfasst. Aber im Senat waren es dann die Grünen, die das Thema weiter- und letztlich zur Parlamentsabstimmung Ende Juni brachten.
Das ging auch ganz ohne die von Kapek senior geforderte actionhaftere Politik. Ohnehin ging die aufsehenerregendste umweltpolitische Aktion dieses Jahres nach hinten los: Die Umweltaktivisten von Greenpeace hatten im Juni gelbe Farbe auf den Großen Stern gekippt, damit Autofahrer sie ungewollt verteilten. Greenpeace wollte damit ein Zeichen gegen Kohlekraftwerke setzen.
Doch leider führte die Aktion auch zu Unfällen und der Einschätzung durch einen führenden SPD-Umweltpolitiker, die Aktion sei „hirnrissig“. Verkehrssenatorin Regine Günther, ohne Parteibuch, aber mit Grünen-Nähe aus einem Führungsjob bei der Umweltorganisation WWF Ende 2016 in den Senat gewechselt, stellte sich zwar im Parlament vor Greenpeace. Dafür gab es aber eine Klatsche von Regierungschef Michael Müller (SPD), der den Vorgang als „nicht hinnehmbar“ bezeichnete.
So zwingend es die Grünen nach wie vor gerade in der Verkehrspolitik braucht, so wenig zwangsläufig mündet das allerdings in deutlich mehr Wählerstimmen. Bei der Bundestagswahl vor einem Jahr passierte schier Undenkbares: Die Grünen landeten in ihrer Hochburg Friedrichshain-Kreuzberg über acht Prozentpunkte hinter der Linkspartei. Die hatte zwar schon bei der Wahl 2013 vorne gelegen, aber nur knapp. Und Direktkandidatin Canan Bayram gewann nur mit mageren 1,4 Prozentpunkten Vorsprung – Vorgänger Christian Ströbele lag 2013 noch über 20 Prozentpunkte vorm Nächstplatzierten.
Die Linken und nicht die zu diesem Thema ebenfalls umtriebigen Grünen werden offenbar vorrangig mit dem zentralen Thema Mieterschutz identifiziert. In den Umfragen auf Landesebene haben zwar auch die Grünen zugelegt. Aber es ist die Linkspartei, die am stärksten profitiert und sich bei über 20 Prozent festgesetzt hat.
Fehlt also vielleicht doch ein bisschen Action, auch wenn diese – siehe Greenpeace am Großen Stern – auch mal fehlschlagen kann? Alles Ansichtssache. Antje Kapeks Mutter, in jüngeren Jahren auch mal Punk gewesen, hielt ihrer Tochter schon 2006 in einem gemeinsamen Gespräch mit der Zeitschrift Brigitte Woman vor, sie sei zu spießig: „Antje ist in allem viel konservativer als ich.“ Kapek, damals 29 Jahre alt und ein Jahr zuvor den Grünen beigetreten, wähnte sich zu jener Zeit künftig nicht hauptberuflich in der Politik: „In fünf Jahren sehe ich mich als Stadtplanerin in Singapur, im Kostüm mit Laptop unterm Arm.“
Das mit Laptop und Kostüm sollte sich bewahrheiten – aber statt nach Singapur zog Kapek fünf Jahre später erstmals ins Abgeordnetenhaus ein. Ein Jahr später wurde sie Fraktionschefin.
Kapeks Mutter wurde 2016 übrigens auch noch Grünen-Mitglied – allzu sehr hat sie das Kostüm der Tochter also wohl nicht abgeschreckt. Sich ein Grünen-Parteibuch zulegen, das taten neben ihr in den vergangenen Jahren noch einige andere, auch ohne die ganz große grüne Action auf der Straße: Seit Ende 2015 stieg die Mitgliederzahl des Landesverbands um fast ein Drittel auf aktuell über 6.800. Das macht die Grünen neben der halb so großen FDP derzeit zur prozentual am stärksten wachsenden Partei der Stadt.
Das Problem der vermeintlichen Eine-Generation-Partei, früher ein großes Thema, erinnert sich Wolfgang Wieland, haben die nun 40 Jahre alt werdenden Berliner Grünen auch nicht mehr. Und zwar nicht nur mit Blick auf die hohe Zahl der Parteieintritte: Franziska Eichstädt-Bohlig, 77, wie Wieland früher an der Fraktionsspitze und Bundestagsabgeordnete, war im Sommer völlig perplex, als die Grüne Jugend mitten in der größten Hitzewelle – „Da pausierte doch früher alles!“ – mit einem besonderen Anliegen bei ihr anrief.
Die Bitte der jungen Grünen an die erfahrene Stadtentwicklungsexpertin: Sie wollten einen Crashkurs in Sachen Wohnungspolitik des Landes sowie der Bezirke. „Der Nachwuchs ist da“, ist Eichstädt-Bohlig deshalb überzeugt. „Da brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.“
4 Oct 2018
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