taz.de -- Doku über Münchner Amoklauf am OEZ: Bitte weinen für die Kamera

Eine ZDF-Doku trifft ein Jahr nach dem Amoklauf auf die Angehörigen der Opfer. Heraus kam reißerischer Voyeurismus.
Bild: Die Doku kehrt an den Tatort zurück – hier die McDonald's-Filiale am OEZ nach der Schießerei

Neun Morde und ein Selbstmord. Am 22. Juli 2017 jährt sich zum ersten Mal der Amoklauf im Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München. Der kalendarisch naheliegende Zeitpunkt für einen Rückblick. Man könnte jetzt nachfassen, zum Beispiel bei sich selbst: Das Fernsehen berichtete damals stundenlang live, obwohl die Reporter vor Ort meistens nichts zu berichten hatten. Aufrufe an die Münchner, von den Straßen fernzubleiben und gegebenenfalls bei Fremden Unterschlupf zu suchen, waren gut gemeint, erwiesen sich aber im Nachhinein als Panikmache.

Hätte man es also anders machen können, sollen, müssen? Darüber könnte, sollte, müsste man beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen mal nachdenken – auch öffentlich, im Fernsehen. Die ZDF-Dokumentation „Schatten des Verbrechens“ aber treiben ganz andere Fragen um:

„Leben. Familie. In Sekundenbruchteilen zerstört. Der Schmerz der betroffenen Familien: untergegangen im Radau um den Täter. Ihr Schicksal: für Abschlussberichte und Analysen nicht relevant. Wie hat Armelas Familie den Amoklauf, den Verlust erlebt? Wie geht es den Segashis heute? Was hilft ihnen?“

Armela Segashi war eine 14-jährige Schülerin, die von dem 18-jährigen Schüler David S. erschossen wurde. Sie hinterließ Vater, Mutter, Bruder, Schwester. Die Autoren Gunnar Mergner („X:enius“) und Carsten Frank filmen die vier verbliebenen Familienmitglieder auf einem Stuhl sitzend. Dann zeigen sie einen leeren Stuhl, der Zuschauer soll ihn Armela zuordnen, die sie „Nesthäkchen“ nennen: „Die Kleinste, die den ganzen Laden zusammengehalten hat.“ Presenter-Reporterin Sarah Tacke („Wiso“) treibt den Familienmitgliedern nach allen Regeln der Kunst vor laufender Kamera die Tränen in die Augen: „Ich meine, das Gute ist ja, dass Ihr im Guten wart. Ist das was, was dich umtreibt, dieses ‚Jemanden nicht noch mal umarmen können‘?“, will sie vom Bruder wissen.

Kein Beitrag war bisher so reißerisch

„Schatten des Verbrechens“ ist nicht einfach nur schlecht, sondern ein Ärgernis. Ärgerlich ist zum Beispiel dieser ständig mitschwingende Vorwurf, die Opfer, um die es doch eigentlich gehen müsste, hätten – vor den ZDF-Journalisten Mergner, Frank und Tacke – niemanden interessiert: „[1][Am nächsten Morgen] wachen die meisten Münchner erleichtert auf. Einer Nacht voller Angst folgt ein normaler sonniger Samstag.“ Sollten die erleichterten Münchner es da etwa gewagt haben, sich in den Biergarten zu setzen, anstatt ob ihres eigenen Überlebens ein schlechtes Gewissen zu haben? Oder was sonst soll hier der Hinweis auf das sonnige Wetter suggerieren?

Um die Tat zu begreifen, muss man den Täter verstehen, dessen [2][rechtsradikale Motivation] inzwischen belegt ist. Den Opfern muss man helfen. Der Film hätte sein Thema, seine Berechtigung, wenn er anprangern könnte, dass das nicht geschehe. Die Journalisten haben an der den Segashis tatsächlich angebotenen Hilfe – sei es finanzieller Art oder bei der Suche nach einer neuen Wohnung – aber gar nichts zu bemängeln. Außer dass sie in aller Stille und ohne Fernsehkameras geleistet wird.

Wenn es aber außer der Trauer der Familie als solcher nichts anderes zu zeigen gibt, was ist dieses fernsehöffentliche Zeigen ohne öffentliches Interesse dann anderes als Vorführen? Als Voyeurismus? Und wohin führt die reich ausgeschmückte Erzählung von den Segashis als „Bilderbuchfamilie“ und „Einwanderererfolgsgeschichte“: „Die Kinder sind höflich, diszipliniert, erfolgreich.“ Selbstverständlich hat der Vater jedes Recht der Welt, stolz darauf zu sein, in mehreren Jahrzehnten in Deutschland nie einen Euro Transfergeld beansprucht zu haben. Aber warum kommt das in den Film, was hat das mit der Tat zu tun? Und was wird da schon wieder suggeriert? Etwa dass die Tat weniger schlimm gewesen wäre, wenn das möglicherweise unhöfliche Kind eines vielleicht schlecht integrierten Sozialhilfeempfängers gestorben wäre?

Der mediale Umgang mit dem Amoklauf von München bedarf der kritischen Nachbetrachtung. Er mag in Teilen reißerisch gewesen sein. Kein Beitrag war aber bislang auf so perfide Weise reißerisch wie dieser Film.

6 Jul 2017

LINKS

[1] /Mutmasslicher-Amoklauf-in-Muenchen/!5327554
[2] http://www.sueddeutsche.de/muenchen/amoklaeufer-david-s-kranker-geist-rassistischer-hass-1.3538747

AUTOREN

Jens Müller

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