taz.de -- taz-Serie Protokolle der Überlebenden: „Es begann wie ein Abenteuer“
Auftakt der taz-Serie „Protokolle der Überlebenden“: Der junge Bengale Samir gerät auf der Suche nach Arbeit nach Libyen und flüchtet erneut.
Mein Name ist Samir*, ich bin 17 Jahre alt. Meine Familie habe ich im Herbst 2016 verlassen. Ich stamme aus der Region Sylhet im Nordosten von Bangladesch. Dort gibt es tropischen Wald und Teeplantagen. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich dort geblieben. Aber das war nicht möglich.
In meiner Gegend leben die Menschen meist von Ackerbau oder Fischzucht. Meine Familie hatte aber kein Land und keinen Fischteich. Vor vier Jahren wurde mein Vater am Herzen krank. Er war Rikschafahrer, aber er konnte nicht mehr arbeiten. Das Fahren ist harte Arbeit, vor allem in der Regenzeit, wenn alles im Schlamm versinkt. Als mein Vater nicht mehr arbeiten konnte, musste ich mich um die Familie kümmern und die Rikscha fahren. Da war ich 12.
Als ich 16 war, kam ein Mann in mein Dorf, der in Libyen gelebt hatte. Er erzählte, dass es dort fünfmal mehr Geld zu verdienen gibt als in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Meine Familie hat sich dann das Geld für meine Reise geliehen.
Es begann wie ein Abenteuer. Es war meine erste Reise in die Hauptstadt, mein erster Flug. Ich hatte Angst, als das Flugzeug startete, aber nach einiger Zeit mochte ich es wirklich. In Tripolis in Libyen wurde ich zu einem Schlafsaal in der Hauptstadt gebracht. Andere Bengalen, die mit mir im Flugzeug saßen, waren dabei. Alle waren froh darüber, dass wir angekommen sind und einen neuen Job beginnen können.
Ich konnte in einer Bäckerei in Tripolis arbeiten, in einem armen Viertel am Stadtrand. Mein Chef nahm mir meinen Pass weg. Ich habe 13-Stunden-Schichten gearbeitet, es gab zwei Mahlzeiten pro Tag. Am Ende des ersten Monats sagte mir der Chef, dass er den folgenden Monat bezahlen wird. Einen Monat später habe ich wieder kein Geld bekommen. Mein Chef sagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich habe dann darauf bestanden, dass ich mein Geld will. Und dass ich es sofort will. Sie haben mich dann in den Hof gebracht und mir eine Pistole an den Kopf gehalten. Der Chef und einer seiner Verwandten haben mich auf Arabisch angeschrien, ich habe sie nicht verstanden. Dann habe ich entschieden, zu fliehen.
Ich hatte Angst, zur bengalischen Botschaft zu gehen. Ich hatte gehört, dass Menschen ohne Pass auf den Straßen der Hauptstadt gefangen und ins Gefängnis gesteckt werden. Ich habe Geschichten über die libyschen Gefängnisse gehört. Sie haben mich erschreckt. Ich wusste nicht, wo ich hingehen konnte. Ich hatte keinen Pass. Zusammen mit einigen Kollegen und Bengalen haben wir uns entschieden, den Weg über das Meer zu versuchen. Ich möchte nicht darüber sprechen, was ich getan habe, um die Schlepper zu bezahlen.
Der Text ist ein Bericht, den das das Team der Hilfsorganisation [1][SOS Mediterranee] noch an Bord des Schiffs „MS Aquarius“ am 14. Februar 2017 während der Fahrt Richtung Italien aufgenommen hat. Der Name wurde geändert. Übersetzung: Christian Jakob
24 Mar 2017
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Abu aus Nigeria wurde von der „MS Aquarius“ gerettet. Er erzählt von seiner Odyssee durch die Sahara – und warum er nicht in Libyen blieb.
Vor Tripolis ist ein Boot mit über 100 Flüchtlingen gekentert. Nur 23 überlebten. Mindestens 590 Menschen starben seit Anfang des Jahres vor Libyens Küste.
Neu sind die Berichte über versklavte Flüchtlinge nicht, aber die Schlepper werden brutaler. Trotzdem will die EU Menschen nach Libyen zurückschicken.
Auf „Amal, Berlin!“ veröffentlichen JournalistInnen, die selbst geflüchtet sind, Nachrichten für Flüchtlinge. Es geht um Meldungen aus Berlin – und um Teilhabe.
Was bringt das Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei den Betroffenen? Die Geschichte einer Syrerin in der Türkei, die nun eine rote Bankkarte hat.
Anders als noch vor zwei Jahren bekommen SyrerInnen meist nur noch subsidiären Schutz. Ein Gericht hat eine Klage dagegen nun zurückgewiesen.