taz.de -- Abgasskandal bei Dieselfahrzeugen: Brüssel soll mal wieder schuld sein
Viele Abgastricksereien der Autohersteller sind legal – wegen unklarer EU-Vorgaben, behaupten Union und SPD. Experten widersprechen.
Berlin taz | Eine neue scheinbare Erkenntnis aus dem [1][Untersuchungsausschuss des Dieselskandals] lautet: Die EU ist schuld daran, dass viele Autohersteller die Abgastechnik ihrer Fahrzeuge manipulieren.
In der Sitzung des Untersuchungsausschusses am Montag erklärte unter anderem Verkehrs-Staatssekretär Michael Odenwald, das einschlägige EU-Recht sei „unkonkret“, das „Verbot der Abschaltung ist nicht klar definiert“. Auch SPD-Obfrau Kirsten Lühmann monierte, die Anweisungen der EU-Kommission zu diesem Punkt hätten „keinen Gesetzescharakter“, man brauche „europaweit eindeutige Formulierungen“.
Auto-Experten, Juristen und die EU-Kommission erklären die Sache andersherum: Die Regeln der EU seien klar und verbindlich. Weder die Firmen noch die Bundesregierung hatten bisher ein Problem mit der EU-Richtlinie 715/2007. Es scheint wie so häufig in der EU: Erst basteln alle an den Regeln herum. Aber wenn sie damit in Konflikt geraten, sind diese plötzlich schuld.
Die umstrittene Vorschrift aus dem Jahr 2007 verbietet „Abschalteinrichtungen“, die erkennen, ob ein Auto getestet wird, oder die Abgasbehandlung für den Normalbetrieb ausschalten. Zulässig sind diese „Defeat Devices“ nur direkt nach dem Start oder um den Motor zu schützen. Trotzdem nutzen sehr viele Hersteller diese Thermofenster.
Das aber sei nicht akzeptabel, befand die EU-Kommission in einer eigenen „Handreichung“, die sie Ende Januar an die Länder verteilte. Abschalteinrichtungen seien bis auf Ausnahmen verboten, die die Hersteller nachweisen müssten, erklärte die EU auf Nachfrage. „Vor dem Skandal hat keine Überwachungsbehörde oder Hersteller von uns Klärungen erbeten“, heißt es aus Brüssel.
Und wenn es eine neue Regelung gäbe? „Hieße das nicht, wir akzeptieren alles, was bisher gemacht wurde, weil die Autobauer sich ja angeblich auf einer unklaren Rechtslage bewegten?“, warnt Lucia Caudet, Sprecherin der EU-Kommission für Binnenmarkt und Industrie, gegenüber der taz. „Wir haben klar gemacht, dass die Ausnahmen eng auszulegen sind und im Einzelfall technisch zu begründen sind.“ Das sei aber nicht passiert.
Vier juristische Gutachten
Mit gutem Grund: Denn bei der Formulierung von 715/2007 redete die Autoindustrie damals in der zuständigen „Motor Vehicle Emissions Group“ der EU ein kräftiges Wort mit, erklärte Motorexperte Axel Friedrich, der für das deutsche Umweltbundesamt in diesen Verhandlungen saß. Auf die Beschwerde, die Motoren bräuchten unter Extrembedingungen die Abschalteinrichtung, habe man „damals extra den Begriff ‚im Normalbetrieb‘ eingeführt“, sagte Friedrich zur taz.
Ein weiterer Motorschutz etwa durch „sogenannte Thermofenster“ sei nie beantragt oder belegt worden und werde etwa auch in den USA nicht akzeptiert, so Friedrich. Seine Haltung: „Thermofenster sind Defeat Devices“ – und damit illegal.
Sind nun unklare EU-Regeln schuld? Es gibt dazu vier juristische Gutachten. Zwei sagen: Nein, die Regeln sind klar, Thermofenster verboten. Zwei andere stufen die Regeln als zweideutig ein.
Die Bundesregierung selbst jedenfalls hatte noch zwei Monate vor dem Bekanntwerden des VW-Skandals nur Gutes über die jetzt kritisierte EU-Richtlinie zu sagen. In einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Grünen vom Juli 2015 zur Definition der „Abschalteinrichtung“ in der Richtlinie heißt es: „Die Bundesregierung sieht diese Definition und die Anforderungen als grundsätzlich zielführend und umfassend an.“
Sie teile aber die Auffassung der EU-Kommission, dass „das Konzept zur Verhinderung von Abschalteinrichtungen sich in der Praxis bislang nicht umfänglich bewährt hat“. Zwei Monate später stürzte die deutsche Autoindustrie deshalb in ihre bislang schwerste Krise.
17 Feb 2017
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