taz.de -- Polio-Impfungen in Pakistan: Der Kampf gegen Kinderlähmung
Die Mutter-Kind-Gesundheit in Pakistan ist miserabel. Viele Schwangere sind unterernährt. Das hat auch zur Folge, dass Impfstoffe nicht wirken.
Das Gesicht des kleinen Jungen ist verdreckt. Seinen Körper bedeckt lediglich ein brauner, längerer Stofffetzen, der einem Lappen ähnelt. Die Haare des Vierjährigen sind zerzaust. Eine Frau ruft immer wieder nach ihm. Doch Aijaz rennt schreiend an mehreren Hütten vorbei und versteckt sich in einer Ecke hinter einem bunten Tuch. Die Frau nähert sich. In ihren Händen trägt sie ein Ringbuch, in dem alle Hütten des Slums in Karatschi – einer Millionenstadt in der pakistanischen Provinz Sindh – verzeichnet sind. In 15 Hütten hat sie bereits gefragt, ob die dort lebenden Kinder gegen Polio geimpft sind. Jetzt sucht sie den kleinen Aijaz.
Die Frau ist Impfhelferin. Sie arbeitet im Rahmen der Globalen Kampagne zur Ausrottung der Poliomyelitis (GPEI) in Pakistan – einem Land, das neben seinem Nachbarstaat Afghanistan und Nigeria zu den einzigen Ländern auf der Welt zählt, in dem die GPEI-Akteure das Virus noch nicht auszurotten vermochten. 18 Kinder waren 2016 von der Kinderlähmung betroffen.
Da westliche Medien nahezu für alles Verheerende in dem Atomstaat die Taliban verantwortlich machen, ist es nicht verwunderlich, dass auch die Ursache für die anhaltende Existenz des Polio-Virus häufig in den wiederkehrenden Anschlägen von Extremisten gesehen wird. Regelmäßige Presseberichte über Anschläge auf Impfteams tun ihr Übriges. Doch ganz so einfach ist die Situation vor Ort nicht zu erklären, weiß Professor Iqbal A. Memon, Expräsident der pakistanischen Gesellschaft für Kinderheilkunde.
Einer der Gründe für die immer wieder auftretende Erkrankung sei das schlechte Immunsystem von Müttern und ihren Kindern, so der Facharzt. „40 Prozent der Frauen in Pakistan sind bereits während der Schwangerschaft fehl- oder unterernährt. Eins von vier Kindern kommt mit einem zu niedrigen Geburtsgewicht auf die Welt.“ Die Immunität der Kinder sei dadurch von vornherein massiv beeinträchtigt. Der Mangel an abwechslungsreichem Essen durch Armut, schlechte Umwelteinflüsse und desaströse hygienische Verhältnisse verschärften diesen Zustand noch.
„Unsere Polio-Impfungen bleiben dadurch häufig unwirksam“, erklärt Abdi Mahamud, Polio-Teamleiter bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Islamabad. So erklärt sich auch, dass die Hälfte der Kinder, bei denen das Virus zuletzt auftrat, gegen Polio geimpft war. Die andere Hälfte war nicht geimpft. Um gegen schlechte Immunität und Impflücken noch gezielter vorzugehen, haben die GPEI-Akteure – also WHO, Unicef, Rotary und die pakistanische Regierung – die Frequenz ihrer nationalen Impfkampagnen erhöht. Anders als in Indien, wo 2012 der letzte Polio-Fall auftrat, laufen die GPEI Impfkampagnen in Pakistan über das gesamte Jahr durch.
Von Tür zu Tür
Einmal pro Monat führen Impfhelfer jeweils montags bis mittwochs von Tür zu Tür Impfrunden durch. Zusätzlich gibt es an einigen Orten wie kleinen Gesundheitszentren oder an Krankenhäusern feste Stützpunkte, an denen Familien ihre Kinder gegen das Polio-Virus impfen lassen können.
Donnerstags und freitags finden noch einmal Von-Tür-zu-Tür-Impfrunden statt, um nach denjenigen Kindern zu fragen, die die GPEI-Impfhelfer von Montag bis Mittwoch nicht finden konnten, erklärt Emma Sykes, bei der WHO in Islamabad für Öffentlichkeitsarbeit rund um das Polio-Programm in Pakistan zuständig.
Zu den neuen Schwerpunkten des Programms zählt seit 2015 auch die gleichzeitige Gabe von inaktiviertem Polio-Impfstoff (IPV) und Lebendimpfstoff (oral, OPV) in Gegenden, in denen die reine OPV-Gabe aufgrund der schwachen Immunität nicht ausreicht. „Inzwischen erhalten 4 Millionen Kinder in Pakistan eine Kombination aus OPV und IPV“, erklärt Rana Safdar, Leiter des Emergency Operation Center (EOC), einer Art Schaltzentrale, von der aus das Programm von Islamabad aus koordiniert wird.
In solchen Ecken – beispielsweise in Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (Fata) – mangelt es entweder an lokalen Gesundheitsstationen oder die wenigen vorhandenen sind extrem dürftig ausgestattet. Ärzte wollen dort meist aufgrund der prekären Sicherheitslage nicht arbeiten, sagt WHO-Experte Abdi. Die Folge: massive Impflücken.
Impflücken entstehen aber noch aus anderen Gründen, weiß Nadir Siddiqui. Siddiqui ist stellvertretender Leiter des zentralen EPI(Expanded Program on Immunization)-Büros in Sindh. Über die Provinz verteilt gibt es 1.453 solcher Zentren. Die WHO führte das EPI 1974 ein, um alle Kinder weltweit gegen die wichtigsten Erkrankungen impfen zu lassen. In Pakistan existiert es seit 1978. Eine der Erkrankungen im Rahmen der nationalen Routineimpfungen: Polio.
Obwohl sich die Routine-Impfraten in den letzten Jahren erhöht haben, seien sie in der Fläche noch immer zu niedrig, beklagt Siddiqui. Die Impfungen scheiterten häufig an einfachen Dingen, sei es an den ständigen Elektrizitätsausfällen, sei es an einem Mangel an Benzin der Impfhelfer, der ohnehin schlechten Infrastruktur des Landes oder an der mangelnden Finanzierung der EPI-Zentren. Der EPI-Fachmann: „Manchmal haben aber auch einfach die Impfhelfer keine Lust mehr.
29 Jan 2017
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