taz.de -- TV-Diskussion um Orlando-Hintergründe: Verbrechen, Terror, Irrsinn?
Eine britische TV-Runde diskutierte das Massaker. Der Kolumnist Owen Jones wehrte sich gegen Relativierungen – und verließ wütend das Studio.
Berlin taz | „Ich habe genug!“, ruft Owen Jones wutschnaubend, reißt sich das Mikrophon vom Revers und stapft davon. Die Frage, wie [1][das Massaker von Orlando] zu interpretieren sei, sorgte im britischen Fernsehen gestern Abend für einen Eklat. Jones fasste später [2][in einem Tweet zusammen]: „Orlando war sowohl eine terroristische Attacke als auch eine homophobe Atttacke auf LGBT-Leute – das ist wirklich nicht schwer zu verstehen.“
Ist es offenbar doch. Moderator Mark Longhurst wollte mit der Journalistin Julia Hartley-Brewer und Owen Jones das Blutbad von Orlando einordnen und über die Berichterstattung der Presse diskutieren (das [3][volle Video der Sendung bis zum Abgang von Owen Jones]). Doch genau bei der Interpretation des Angriffs gab es Meinungsunterschiede: Ein Hassverbrechen? Ein Terrorakt? Der Amoklauf eines Irren?
Hitzig wurde die Diskussion, als Longhurst seine Gesprächspartner um eine Einschätzung bat: „Die Frage ist, ob es ein Hassverbrechen war oder im Namen einer Religion begangen wurde.“ – „Beides!“, fuhr Jones dazwischen. „Wir sollten versuchen, zwischen den beiden zu unterscheiden“, sagte Longhurst weiter, und Jones entgegnete erregt: „Wenn er in eine Synagoge gegangen wäre und unschuldige jüdische Menschen umgebracht hätte, hätten wir ihn als widerlichen antisemitischen Terrorist bezeichnet. Dies war genauso ein homophobes Hassverbrechen wie Terrorismus!“
Auch Julia Hartley-Brewer verwendete bei der Beschreibung des Attentäters immer wieder das Wort „lunatic“ („Irrer“), dies habe auch dessen frühere Lebensgefährtin bestätigt. Hartley-Brewer räsonierte: „Wenn du 50 Leute tötest, bist Du ein Irrer!“ Und Jones entgegnete: “Hör auf, das Wort „Irrer“ zu benutzen! Das war eine homophobe terroristische Attacke!“
Die besondere Bedeutung von LGBT-Clubs
Vorher hatte Jones versucht, den beiden offen heterosexuellen Kolleg_innen zu erklären, was diese Attacke für LGBT-Menschen bedeutet: „Die Leute gehen in solche Clubs, um Spaß zu haben, zu trinken, Party und so weiter. Aber es sind auch Orte der Solidarität, der Freundschaft und der Liebe.“ [4][Richard Kim hat das für The Nation gut aufgeschrieben].
Doch die besondere Bedeutung von LGBT-Clubs für eine Minderheiten-Community ging an den beiden Talk-Partnern vorbei, obwohl Owen Jones sie geradezu beschwor: „Wir müssen das als das bezeichnen, was es ist: eine absichtliche Attacke auf LGBT-Leute an einem LGBT-Ort!“ – „Auf die Freiheit aller Leute!“, versuchte Longhurst zu verallgemeinern, doch Jones blieb bei seinem Fokus: „Sie verstehen das nicht, Sie sind nicht schwul!“ – „Es spielt keine Rolle, ob ich schwul bin!“
Jones verwies mehrfach darauf, dass es in den Medien zu wenige Stimmen von LGBT-Leuten gebe. Als in der Presseschau dann doch ein Vertreter der Organisation „Stonewall“ zitiert wurde, quasi als Feigenblatt des Ganzen, warf Owen Jones hin und verließ die Runde.
Hinterher gab es in den sozialen Netzwerken einige Anfeindungen für die Beteiligten, Julia Hartley-Brewer wurde Homophobie vorgeworfen. Sie [5][wehrte sich via Twitter]: „Ich habe nichts gesagt, wofür ich mich entschuldigen müsste.“ Und: „50 Leute wurden ermordet, einfach weil sie schwul waren. Ich glaube, darüber sollten wir wütend sein, nicht über eine vermeintliche Beleidigung in einer TV-Show.“
13 Jun 2016
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