taz.de -- Die Wahrheit: Altern für Mutige

Tagebuch einer Rehaista: Drei Wochen bei der Körpertrimmung im Nichts, drumherum nur Brandenburg.

Die Gesellschaft altert, die großen Debatten unserer Zeit toben ums Geriatrische. Wer sich persönlich vorbereiten möchte, dem sei eine Reha empfohlen, nirgends lässt sich würdevolles Altern mit all seinen Gebrechen besser studieren. Drei Wochen, drumherum nur Brandenburg. Nichts für Feiglinge.

Das Gruppentraining für alle Geschlechter – „Bauchmuskeln anspannen! Auch Sie, meine Herren!“ – eröffnet Einblicke ins defizitäre Körperbewusstsein besonders der Männerwelt und erklärt endlich den entrückt-konzentrierten Ausdruck, mit dem wir nach unserer Entlassung in öffentlichen Verkehrsmitteln vor uns hin stieren werden: Schuld sind nicht etwa Meditation oder Suff, sondern Kursleiterinnen, die uns einbläuen, bei jeder Gelegenheit unsere Beckenböden zu trainieren.

Neben solch Fitness fördernden Maßnahmen kann man auch von seinen Mitpatienten viel fürs Alter lernen. Da wäre die entspannte Selbstvergessenheit, mit der sich Krückenträger beim Essenfassen ihre Gehhilfe unter den Arm klemmen und dann bei plötzlicher Richtungsänderung das Wurstbuffet abräumen oder den Hintermann niedermähen.

Hat man es unfallfrei zum Tisch geschafft, werden die Inhalte von TV-Kanälen diskutiert, in denen sich Bätschlerätts, Shopping Queens und andere Wesen tummeln. Seltsamerweise kennt hier jeder diese Programme, auch die Tischnachbarin, die schon 19 Osteopaten und 30 Orthopäden verschlissen hat, und sich jetzt ihr Iliosacralgelenk mittels einer – der appetithemmenden Schilderung nach – sehr garstigen Prozedur geraderücken lassen will.

Flucht in den klinikeigenen Pediküresalon. Im Radio läuft Werbung für den neuen Bond. Fußpflegerin: „Ham se schon mal einen jesehen?“ – „Klar! Alle!“ – „Ach Jott, da hab ick ja die Rischtje! Wat machen Sie’n beruflisch?“– „Autorin.“ – „Ja, ick hätt jetz auch auf Journalistin jetippt.“ Der Blick fällt tadelnd auf die mitgebrachte Zeitung.

Druckerzeugnisse scheinen hier einen gewissen Reiz auszulösen. Meine Ärztin beispielsweise kichert bei der Visite angesichts der Stapel in meinem Zimmer. „Ick les die ja nich,“ meldet sich die Fußpflege zurück, „jibt ja keene freie Presse mehr.“ Ich unterdrücke eine Anmerkung zur Pressefreiheit im „Neuen Deutschland“, aber „Ick informier mich ja im Internet. Man hat so seine Quellen“, geheimnistümelt Madame und schmirgelt schlampig Hornhaut. Lügenpediküre für die Vertreterin der Lügenpresse. Auge um Auge, Zeh um Zeh.

Das Wochenende bietet „Schmusetiere selber stopfen“ oder alternativ: Ausbruch. Im Wald klopft der Specht, und auch Bambi schaut vorbei auf dem nächtlichen Weg zum Mann ins nahegelegene Hotel am See. Das Bettkopfteil ziert ein aquarellierter Sonnenuntergang, im Frühstücksraum wölben sich gigantische Froschköpfe in Form einer Deckenlampe und die hoteleigene Butike offeriert eine – one size fits all – „Wunderhose“.

Yeah, Brandenburg! Und keine einzige Krücke! Wir sind bereit, Alter.

26 Nov 2015

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Frankenberg

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