taz.de -- „Angekommen – Flüchtlinge erzählen“: Ich habe mich hier gefunden

Ich liebe Berlin. Techno. Graffiti. Die Vernachlässigung, die uns eint. Meine Nachbarn, den Polizisten. Ich liebe die vielen Möglichkeiten.
Bild: Ich laufe an der Mauer entlang und erkläre meiner Freundin die Bedeutung von Mut und Standhaftigkeit in Wort und Tat

In Berlin genieße ich die Freiheit. Die hiesige Regierung unterstützt mich dabei. Ich spiele Billard und trage eine der teuersten Mützen, Marke Bork Boy. Ehrlich gesagt habe ich sie nicht gekauft, sondern am Eingang des Gebäudes, in dem ich wohne, gefunden. Ich habe sie sofort getragen, ohne sie vorher zu waschen. Das ist ein Ausdruck meines guten Willens und der Achtung der zur zivilisierten Klasse gehörenden Person, die vorher die Mütze trug.

Und tatsächlich hat eine der blonden Frauen, die ich auf der Treppe zufällig traf, die Mütze an mir gesehen. Es war meine Nachbarin. Sie sagte: „Eine schöne Mütze! Sie gehörte ursprünglich mir.“

Ich bekam sofort das gute Gefühl des guten Gewissens hinsichtlich meiner Entscheidung, die Mütze nicht zu waschen. Es ist unvorstellbar, dass es für den Wechsel der Mütze von diesem blonden Haar auf mein eigenes Haar einen Grund für Beunruhigung und Zweifel gibt.

Vielleicht wäre der Wechsel für die Mütze willkürlich. Für mich und für die Öffentlichkeit ist dieser Wechsel ein zivilisatorischer Übergang – ganz ähnlich meiner Ankunft hier aus Syrien.

Was Billard angeht: Es ist abends mein bevorzugtes Spiel. Ich spiele Billard in Paule’s Metal Eck. Wenn ich den schwarzen Ball einloche und das Spiel vermassele, versuche ich, mich durch eine Flasche Bier zu beruhigen, meinen Spielverlust zu kaschieren. Wenn ich gewinne, stellen die, die ich besiegt habe, des Öfteren die Frage: „Woher kommst du?“oder „Where are you from?“. Natürlich antworte ich ohne Zögern: „Syria, Syria.“

Wenn dann die Augen des Fragenden vor Erstaunen explodieren und er zu mir sagt: „I am sorry what happens in Syria“, reibe ich mir den Kopf und erinnere ich mich an die Zeit der Grundschule. Ich erinnere mich an die Ausstellung von Zeichnungen und Bastelarbeiten der Schüler.

Damals gab ich alles, was ich als Taschengeld bekam, ausschließlich für mein persönliches Vergnügen aus. Mein Beitrag an den Ausstellungen beschränkte sich auf einige Eisenstücke, die ich kostenlos aus der Werkstatt meiner Eltern holte. Diese Gegenstände gefielen allen. Natürlich übertrieb ich dann, in dem ich schwer einzuordnende Metallstücke mitbrachte, spitze Teile und Schrauben in komplizierten Formen. Sie faszinierten meine Mitschüler und die Lehrer.

Eines Tages brachte ich den Getriebehebel eines Mähdreschers mit allem Drum und Dran, mit dem ganzen Schmutz und Dreck. Den stellte ich aus. Unser Fräulein Lehrerin, die Lehrer, der Direktor, die Schüler und der Aufseher versammelten sich um ihn. Sie ignorierten die Sonne, die Flüsse und die von meinen Schulfreunden mitgebrachten Blumen. Sie ignorierten die Fackel und die auf einem Karton gezeichnete verschleierte Frau. Sie ignorierten die Aussagen Hafis al-Assads, die Fahne und selbst das vom Sohn des Fräuleins aus Papier gebastelte Flugzeug. Sie konzentrierten ihr ganzes Interesse auf den Getriebehebel!

Ich fühle mich in Deutschland wie ein gebrochener Getriebehebel und betrachte Paule’s Metal Eck als eine Ausstellung in einer Grundschule.

Ich gehe an die Berliner Mauer und sage: „ Ach, mein lieber Gott.“ Diesen Spruch sagen wir in unserem Land, wenn wir uns für die Neutralität oder die Kapitulation oder das Leben in Frieden entscheiden.

Die Bedeutung von Mut

Aber hier sage ich den Spruch, während ich mit meiner Freundin spazieren gehe. Wenn ich von meinen Heldentaten auf den öffentlichen Plätzen und von den Demonstrationen erzähle, von meiner Teilnahme an der Revolution und dem Kampf in Syrien. Ich laufe an der Mauer entlang und erkläre ihr die Bedeutung von Mut und der Standhaftigkeit in Wort und Tat. Ich prahle mit meiner Männlichkeit und erzähle von der Opferbereitschaft.

Und plötzlich kommt ein Hund auf uns zu. Er bellt aggressiv. Ich fasse meine Freundin an den Schultern. Stelle sie vor mich und verstecke mich hinter ihr. Es ist ein zahmer Hund, der nicht beißt, sagt sein Besitzer.

Trotzdem ist die Ruhe, mit der ich an der Berliner Mauer vorbeistolzierte, zusammengebrochen.

Ich gehe nicht mehr zu Fuß. Ich habe Fahrradfahren gelernt. Berlin bringt dir bei, bescheidener zu sein. Trage irgendeine Kleidung, lache die anderen an und misch dich nicht in die Angelegenheiten der anderen ein. Ich kann keine Zigaretten drehen. Und die Preise für Zigaretten belasten mich. Trotzdem kaufe ich am ersten Tag jedes Monats feierlich – nach dem Erhalt meines Lohnes durch meinen edlen Freund „das Jobcenter“ – eine Schachtel Zigaretten. Ich habe dann sozusagen 394 Euro statt 400 Euro bekommen. Mein Haushalt wird nicht zusammenbrechen, wenn ich monatlich 6 Euro für eine fertige Tabakpackung ausgebe. Ich betrachte diese Summe als Verlust oder als Steuer. Ich betrachte sie als irgendwas. Zum Beispiel als Hilfe für Flüchtlinge.

Ich liebe die Vielfalt dieser Stadt. Ich liebe die vielen Möglichkeiten, die sie mir schenkt. Sie ist aufregend, wie sie sagen. Die Vernachlässigung, die sie schmückt, gefällt mir. Diese Vernachlässigung, die du selbst gewollt hast, damit sie schön wird, diese Stadt. Die du fühlst und die uns als vernachlässigende Menschen ähnlich macht. Das gefällt mir.

Ich liebe meine Nachbarn

Ich verliebte mich leidenschaftlich in Techno. Ich interessiere mich für Straßenkunst. Ich liebe die Graffiti auf den Mauern. Ich träume von einer industriellen Drechslerwerkstatt, in der ich mich als Arbeiter betätigen könnte. Dann könnte ich das Schreiben aufgeben.

Ich liebe meine Nachbarn, wenn sie mich morgens anlachen und mir einen guten Morgen wünschen. Dann habe ich das Gefühl, dass sie mich seit langer Zeit kennen. Ich liebe die Polizei und vor allem den Polizisten, der mir wie ein normaler Bürger ein Feuerzeug gibt, wenn ich ihn darum bitte.

Hier kannst du den Polizisten nach der Straße fragen und nach der Musik, die er liebt. Ohne dass er dich ins Gefängnis wirft. Ich habe mich in Deutschland selbst gefunden. Das verlorene Ich äußert sich hier in seinem schönsten Zustand. In der U-Bahn betrachten mich Musiker, während sie spielen. Und dann spielen sie ausschließlich für mich.

In Berlin fasziniert mich das Gerede, das ich über den KitKatClub höre. Und dann erinnere ich mich an die Flüchtlingskrise. Und ich frage mich, wie viele Flüchtlinge wohl in dem Club sein werden, wenn ich dort hineinspaziere. Was werde ich dem Flüchtling, den ich dort treffen werde, sagen? Ich meine: im KitKatClub? Was werde ich ihm sagen, wenn er mich fragt: „Was machst du hier?“

Aus dem Arabischen übersetzt von Abdel Mottaleb El Husseini

16 Oct 2015

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Said
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