taz.de -- Forschung zu Antijudaismus: Der ewige Sündenbock

Drei neue Bücher untersuchen Antijudaismus und Antisemitismus. Die Autoren setzen jeweils eigene Schwerpunkte.
Bild: Kippa-Flashmob: Demonstration für mehr Solidarität mit Juden in Hannover im März dieses Jahres.

Seitdem im vergangenen Sommer aus Protest gegen das Vorgehen des israelischen Militärs in Gaza auf deutschen Straßen wieder hasserfüllte antisemitische Parolen skandiert wurden und als später die Bundesregierung Schwierigkeiten hatte, jüdische Mitglieder in eine Kommission zur Erforschung von Antisemitismus zu entsenden, ist Judenhass wieder ein viel diskutiertes Thema.

Zum besseren Verständnis leistet die Wissenschaft wertvolle Hilfe: Im letzten und in diesem Jahr sind drei neue Standardwerke auf Deutsch erschienen, die den Ursachen und Folgen dieses menschenverachtenden Phänomens nachgehen.

Während der US-amerikanische Mediävist David Nirenberg um den Nachweis bemüht ist, dass „Antijudaismus“, den er bewusst vom „Antisemitismus“ unterscheidet, eine, wenn nicht die Grundströmung westlichen Denkens ist, geht es der Historikerin Susanne Wein in einem magistralen Werk um „Antisemitismus im Reichstag“, um „Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik“.

Schließlich wird in dem von den Kulturwissenschaftlern Hans Joachim Hahn und Olaf Kistenmacher herausgegebenen Band „Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft“ die Antisemitismusforschung selbstreflexiv, in dem sie ihre Geschichte erforscht.

Während Susanne Weins ebenso umfangreiche wie packend geschriebene Studie nicht weniger als ein Handbuch zur Geschichte des gescheiterten Weimarer Parlaments darstellt, will Nirenberg in seinem viel beachteten Buch nachweisen, dass die grundlegenden Kategorien nicht nur des westlichen, sondern auch des islamischen politischen Denkens von einer Semantik bestimmt sind, in der „das Jüdische“ im Zentrum steht.

Dabei hat der Autor in der Sache selbst kaum Neues zu bieten. Der Anmerkungsteil zu seinem Buch beweist freilich, dass er zum Thema beinahe alles, was die bisherige Forschung von der Antike bis zu Josef Goebbels gefunden hat, kennt und sachkundig referiert. Indem er sorgsam nicht von Judenhass, sondern eben von „Antijudaismus“ schreibt, will er letztlich nachweisen, dass und wie begriffliche Dichotomien der späten Antike die politische Kultur des Abendlandes (und auch des Islam) geprägt haben.

So ist es kein Zufall, dass am Anfang seiner sorgfältig entfalteten Genealogie der Apostel Paulus steht, der bekanntlich radikal zwischen „Fleisch und Buchstaben“ hier sowie „Seele und Geist“ dort unterschieden hat – eine Differenz, die Nirenberg auch noch in den Arbeiten von Immanuel Kant und Karl Marx wiederfinden will.

Dass er dabei erklärtermaßen nicht zu Diskussionen beitragen will, „ob Martin Luther Antisemit oder ein Vordenker des Holocaust war“, irritiert hierzulande dann doch. Nirenbergs intellektualgeschichtliche Beschränkung auf „Antijudaismus“ wird dem, worum es ihm letztlich doch auch geht, nicht gerecht und nimmt seinen sonst so überzeugenden Ausführungen den politischen Stachel.

Was man ahnen konnte

Ganz anders Weins Darstellung, die im Einzelnen – bis in die Biografien mutiger jüdischer, aber auch hetzerischer bis verwirrter deutschnationaler oder kommunistischer Abgeordneter – nachweist, wie die Unterscheidungen von „Eigenem“ und „Fremdem“, von „Volk“ und „Einwanderern“, von „Kapital“ und „Arbeit“ Judenfeindschaft zum Ausdruck brachten.

Wer Weins Studie gelesen hat, wird noch besser als bisher verstehen, warum Hetzreden die Demokratie zerstören und wie es zur Machtübergabe des Bürgertums an Hitler kommen konnte. Welche Rolle dabei der Antisemitismus spielte, ist noch immer umstritten; unbestritten ist, dass es schon zur Weimarer Zeit Theorien über den Antisemitismus gab, mehr noch, dass manche dieser Theoretiker sogar in gewisser Weise voraussahen, wohin eine Machtübernahme der Nationalsozialisten führen würde.

Theorien über den Antisemitismus sind – das zeigt der vorzügliche Band zur Geschichte der Antisemitisforschung – gerade so alt wie der politische Widerstand gegen die Emanzipation der Juden im 18. Jahrhundert. Eine wissenschaftliche Grundlegung der Erforschung dieser Widerstände wurde – wenig erstaunlich – zuerst von Betroffenen, also jüdischen Gelehrten, vorgelegt, wie Werner Tress am Beispiel der deutschen Länder im frühen 19. Jahrhundert zeigt.

Dass viele dieser Erklärungsversuche ganz unterschiedlichen, zum Teil sogar gegensätzlichen Theorien entstammten, weisen Klaus Holz und Jan Weyand nach – unter diesen Theoretikern fanden sich Zionisten und Antizionisten, orthodoxe – wie David Jünger nachweist – und liberale Juden; in aller Regel, mit ganz wenigen Ausnahmen, Männer. Manche dieser Autoren waren beides in einem: Antisemiten sowie Theoretiker des Antisemitismus, etwa der bizarr tragische Otto Weininger, dem der hervorragende Beitrag von Christine Achinger gilt.

Es ist an dieser Stelle unmöglich, allen Beiträgen gerecht zu werden, hingewiesen sei nur auf den durchaus zu Unrecht vergessenen Leo Wertheimer, der sich den Nom de Guerre „Constantin Brunner“ gab und mit seinem entschiedenen Assimilationsprogramm wohl der interessanteste, weil widersprüchlichste dieser Theoretiker war, wie Jürgen Stenzel zeigt.

Bei allen Verdiensten des Bandes fällt doch eine Lücke auf: Warum die Herausgeber zwar die von Koppel Pinson verantworteten New Yorker „Essays on Antisemitism“ aus dem Jahr 1942 erwähnen, Horkheimers und Adornos entsprechende, ebenfalls in diesen Jahren verfasste Passagen aus der „Dialektik der Aufklärung“ jedoch nicht, bleibt ihr Geheimnis. Oder liegt es daran, dass Horkheimer und Adornos 1944 entstandene Überlegungen erst 1947 publiziert wurden?

28 Jul 2015

AUTOREN

Micha Brumlik

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