taz.de -- Mauergedenken: Die Gesichter der tödlichen Fluchten
Wie viele Menschen starben an der Berliner Mauer? Wer waren sie? Eine wissenschaftliche Dokumentation gibt nun erstmals genaue Auskunft - abseits der bislang üblichen Ideologie.
Die ersten Schüsse fielen elf Tage nach dem Bau der Berliner Mauer. Nahe dem Reichstag versuchte am 24. August 1961 ein Mann die Spree in Richtung Westen zu durchschwimmen - und wurde entdeckt. Erst gaben die Grenzer aus dem Osten Warnschüsse ab, dann zielten sie genauer. Mehrfach am Kopf getroffen versank der Flüchtling im Wasser. Günter Litfin war der erste Mauertote.
28 Jahre später, am 5. Februar 1989, näherten sich zwei junge Burschen der Grenze in Britz. Einer von ihnen hieß Chris Gueffroy, ein 21 Jahre alter Ostberliner. Anfangs ging alles gut. Bis zum letzten Zaun. DDR-Soldaten spürten die beiden auf und nahmen sie sofort unter Beschuss. Gueffroy traf die Kugel ins Herz. Er starb an der Mauer.
Litfin und Gueffroy sind der erste und der letzte Flüchtling, die zwischen 1961 und 1989 durch Schüsse an der Berliner Mauer ums Leben kamen. Dass sie zu fliehen versuchten, skandalisierten im Westteil der Stadt die Medien. Und selbst im Ostteil wusste man vom Hörensagen von den beiden sowie über Ida Siekmann oder Peter Fechter Bescheid. Ihr Tod an der Mauer wurde bekannt, löste Entsetzen und Betroffenheit aus.
Weit weniger präsent ist selbst 20 Jahre nach dem Fall der Mauer das Schicksal der Mehrzahl von Mauerflüchtlingen. Wer waren diese Menschen, wie kamen sie ums Leben, wie viele Opfer sind zu beklagen? All das blieben unbeantwortete Fragen. Zugleich beherrschte Ideologiesierung das Terrain. Nach einer etwa von der konservativen "Arbeitsgemeinschaft 13. August" vorgelegten Zahl sollen 313 Menschen an der Mauer gestorben sein.
Mit der Vorlage der ersten wissenschaftlichen Aufarbeitung der Todesfälle an der Mauer ist nun diese Lücke geschlossen worden. Das am Dienstag - kurz vor dem 13. August - vorgestellte Handbuch "Die Todesopfer an der Berliner Mauer" ist das Resultat eines mehrjährigen Forschungsprojekts des [1][Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam] (ZZF) und der Stiftung Berliner Mauer. Nach Auskunft von Martin Sabrow und Hermann Hertle (beide ZZF) liegen damit "erstmals quellengestützte und überprüfbare Angaben über die Mauertoten vor, die zwischen 1961 und 1989 starben".
Während der Teilung sind mindestens 136 Menschen aus dem Ost- und Westteil an den Grenzsperranlagen ums Leben gekommen. 98 der von den Wissenschaftlern dokumentierten Todesopfer waren DDR-Flüchtlinge - Frauen, Männer und neun Kinder -, die versuchten, über die Sperranlagen nach Westberlin zu gelangen, und dabei erschossen wurden oder verunglückten. Unter den Todesopfern waren aber auch 30 Menschen aus Ost und West, die keine Fluchtabsichten hatten - wie Badende in der Spree beispielsweise - und dennoch erschossen wurden. Auch acht DDR-Grenzer, die von Fahnenflüchtigen, Flüchtlingen oder Fluchthelfern getötet wurden, listen die Historiker vom ZZF und der Stiftung Mauer-Gedenkstätte auf. Außerdem verstarben 251 Reisende während der Grenzkontrollen in Dreilinden/Drewitz. 16 Fälle bleiben "ungeklärt", in 8 laufen noch die Recherchen.
Dass neben den historischen Daten aus den Archiven der Westberliner Behörden, der Staatssicherheit und DDR-Grenzpolizei zugleich auch die biografischen Hintergründe, Motive und Todesumstände der Opfer durch neue umfangreiche Quellen und Materialien dokumentiert sind, ist die besondere Leistung des Handbuchs. Damit sollen die Toten "dem verordneten Vergessen des SED-Regimes wieder entzogen werden", sagte Sabrow.
Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) lobte das "eindrucksvolle" Erinnerungs- und Gedenkprojekt, das sein Ministerium mit 280.000 Euro gefördert hatte. Nach seiner Ansicht leiste die vorgelegte Dokumentation einen wichtigen Beitrag, das "DDR-Unrecht vor allem für jüngere Menschen fassbarer zu machen".
12 Aug 2009
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