taz.de -- Wahl in der Türkei: Ernüchternder Sieg für Erdogan

Gewonnen und doch verloren: Recep Tayyip Erdogan bleibt Ministerpräsident. Seinen Lebenstraum muss er jedoch beerdigen: ein Präsidialsystem mit ihm als Präsidenten.
Bild: Feiern, auch wenn nicht alles optimal lief: Anhänger von Ministerpräsident Erdogan.

ISTANBUL taz | Es war ein Wahlabend, an dem sich die zwei Hauptkonkurrenten beide zu Siegern erklärten, tatsächlich aber beide ihre eigentlichen Wahlziele nicht erreichen konnten. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der davon geträumt hatte, mit einer neuen Verfassung die Türkei in ein Präsidialsystem mit ihm als Präsidenten umzubauen, muss diesen Lebenstraum beerdigen. Seine Partei erreichte nicht die angestrebte verfassungsändernde Mehrheit, eine neue Verfassung wird nun in Zusammenarbeit aller Parteien erarbeitet werden müssen. Und Kemal Kilicdaroglu, der neue Chef der Sozialdemokraten, konnte zwar zulegen, blieb aber trotzdem weit unter den erhofften 30 Prozent.

Zum dritten Mal in Folge hat der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag die Parlamentswahlen mit mehr Stimmen gewonnen als bei den Wahlen zuvor. Erdogans AK Partei erreichte 49,9 Prozent und konnte damit im Vergleich zur Wahl 2007 noch einmal drei Prozentpunkte zulegen.

Die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische CHP kam auf 26,9 Prozent und erhielt damit 6 Prozentpunkte mehr als 2007. Die ultrarechte MHP verlor fast 2 Prozentpunkte, blieb aber mit 13 Prozent im Parlament. Für die größte Überraschung sorgten die Kurden: Sie traten als unabhängige Kandidaten an und konnten die Zahl ihrer Mandate fast verdoppeln. Statt 20 stellen sie nun 36 Abgeordnete.

Trotz Zuwachs weniger Mandate

Das türkische Wahlrecht bringt es mit sich, dass die AKP trotz prozentualem Zuwachs weniger Mandate bekommt, als in der letzten Legislaturperiode. Die Anzahl der Mandate hängen entscheidend davon ab, wie viele Parteien den Sprung über die Zehnprozenthürde schaffen, beziehungsweise wie viele Stimmen von denjenigen Parteien aufgeteilt werden, die unter der Hürde bleiben. Deshalb hatte Erdogan mit einem betont rechten Wahlkampf versucht, die MHP unter 10 Prozent zu drücken, was aber deutlich misslang.

Auch die zahlreichen Behinderungen der kurdischen Kandidaten zahlten sich nicht aus, im Gegenteil, die Kurden hatten den Opferbonus für sich und konnten die Zahl ihrer Mandate fast verdoppeln. Das führt dazu, dass die AKP lediglich 326 Mandate bekam, vier weniger, als sie gebraucht hätte, um eine von ihr abgestimmte Verfassung den Wählern als Referendum vorzulegen und weit weniger als die eigentlich angestrebte Zweidrittelmehrheit von 367 Sitzen, mit denen sie im Parlament eine neue Verfassung allein hätten verabschieden können.

Trotzdem hat Erdogan einen historischen Sieg eingefahren. Nie zuvor in der türkischen Parlamentsgeschichte konnte ein Regierungschef dreimal hintereinander gewinnen und dabei auch noch jeweils zulegen. In seiner Rede vor Tausenden Anhängern in der Wahlnacht gab er sich versöhnlich. Er kündigte an, die AKP werde nun auf die anderen Parteien zugehen, um gemeinsam eine neue Verfassung zu erarbeiten. Er entschuldigte sich für mögliche Verletzungen im Wahlkampf.

Anhänger von Sarajevo bis Baku

Vor allem aber inszenierte sich Erdogan als neuer regionaler Führer. Er begrüßte seine Anhänger von Sarajevo bis Baku, seine Brüder in Damaskus, Beirut, Jerusalem und Kairo. Palästinenser, Bosniaken, Libanesen und Aseris würden von seinem Wahlsieg genauso profitieren wie die Türken. Wenn er mit seinen 50 Prozent schon nicht ein Präsident nach französischem Muster werden kann, will er zumindest als stärkster Mann der Region gesehen werden.

Für den neuen Star der Opposition, Kemal Kilicdaroglu, heißt es dagegen, die Zähne zusammenzubeißen und weiterzuarbeiten. Im Gegensatz zu Erdogan hat er die Zahl der Mandate für die CHP zwar steigern können, doch der Abstand zur AKP bleibt deprimierend groß. Von einer echten Machtperspektive sind die Sozialdemokraten weit entfernt.

Erdogan hatte vor der Wahl angekündigt, dass dies seine letzte Legislaturperiode als Ministerpräsident wird. Damit stellt sich die Frage, ob er stattdessen das Präsidentenamt anstreben wird, auch wenn es den jetzigen, eher repräsentativen Charakter behält. Die Amtsperiode von Präsident Abdullah Gül endet 2014. Wenn Erdogan 2014 zum Präsidenten gewählt wird, muss die AKP 2015 mit einem neuen Kandidaten antreten. Darauf hofft die Opposition.

13 Jun 2011

AUTOREN

Jürgen Gottschlich

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