taz.de -- Großeinsatz in Syrien: Die Armee jagt Deserteure

Bei einem Großeinsatz in Homs sind seit Mittwoch nach Angaben von Aktivisten mindestens 31 Menschen gestorben. Wohnviertel der Stadt wurden beschossen.
Bild: Handyfoto eines syrischen Militärlasters in der Nähe von Homs. Die Aufnahme stammt vom 21. April.

BEIRUT taz | Die Einwohner von Homs haben sich in ihren Häusern verschanzt. Seit die Soldaten am Mittwochmorgen in die zentralsyrischen Stadt eingedrungen sind, wagt sich kaum noch jemand nach draußen. Fast alle Geschäfte sind geschlossen. Auf der Suche nach desertierten Soldaten und Aktivisten durchkämmen die Truppen Straße für Straße, Haus für Haus. Bislang starben bei dem Großeinsatz mindestens 31 Menschen.

"Sie kamen gegen fünf Uhr morgens in die Stadt und haben mehrere Wohnviertel mit Panzern umstellt", sagt Mohammed, ein Aktivist aus Homs. "Sie haben eine Liste von Leuten, nach denen sie fahnden. Auch mein Name steht darauf. Sie sind in mein Haus eingedrungen, um mich zu verhaften. Gott sei Dank war ich gerade unterwegs."

Homs zählt zu den Hochburgen der Aufständischen. An dem Tag, bevor der Angriff begann, hatten dort erneut tausende von Menschen gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad demonstriert. "Seit sechs Monaten vergeht hier kein Tag, ohne dass die Leute irgendwo protestieren", meint Mohammed. "Ich denke, das wollen sie jetzt mit allen Mitteln unterbinden." Zusätzlich sind am Mittwoch nach Angaben von Aktivisten 13 Wehrdienstleistende und drei Offiziere in Homs desertiert. Berichten zufolge ist die Zahl der Überläufer erheblich angestiegen.

"Gott ist groß"

Auf YouTube kursiert ein Video, auf dem zu sehen ist, wie Soldaten in Homs ihren Posten verlassen und in eine Menschenmenge eintauchen. "Gott ist groß", jubeln die Anwohner und umarmen die Rekruten. Einige Deserteure sollen in der Stadt geblieben sein, um die Demonstranten zu beschützen. Offenbar haben sie versucht, die Zufahrtsstraßen eines christlichen Viertels mit militärischen Fahrzeugen zu blockieren. Doch der Vormarsch der regimetreuen Streitkräfte am folgenden Tag ließ sich damit nicht aufhalten.

Den ganzen Mittwoch über feuerten die Truppen mit Sturmgewehren und schwerer Artillerie um sich. Augenzeugen berichten, dass sich Soldaten hinter Sandsäcken verbergen und wahllos auf Passanten schießen. Überall in der Stadt wurden Checkpoints errichtet, mindestens 45 Menschen verhaftet. Zeitgleich kam es auch in mehreren Städten an der türkischen Grenze zu Razzien. Offenbar sucht die Armee weiterhin nach Mohammad Adnan al-Bakkur, dem ehemaligen Oberstaatsanwalt der Provinz Hama. Bakkur hatte vor wenigen Tagen in einem YouTube-Video seinen Rücktritt angekündigt. Damit ist er der erste hochrangige Beamte, der sich öffentlich von Assad distanziere.

In Homs setzten Armee und Sicherheitskräfte ihre Angriffe am Donnerstag fort. Alle fünf bis zehn Minuten sind Schusssalven zu hören, sagt Mohammed, der junge Aktivist. "Die Situation ist ruhiger als gestern, aber sehr angespannt. Sorge macht uns vor allem, dass sie alle Staatsangestellten angewiesen haben, bis Samstag ihre Häuser nicht zu verlassen. Wir alle sitzen nun in unseren Wohnungen und warten ab. Ich denke, sie planen eine große Offensive hier in der Stadt."

8 Sep 2011

AUTOREN

M. Keller

ARTIKEL ZUM THEMA

Syrische Oppositionsgruppen vereinen sich: Nationalrat gegen Assad gegründet

Die in unterschiedliche ethische und ideologische Gruppen gespaltene Opposition in Syrien scheint sich geeint zu haben. Derweil bekämpft die Regierung ihre Gegner immer brutaler.

Syrischer Aktivist: Im Knast zu Tode gefoltert

Er begrüßte Soldaten mit Blumen: Ghijath Matar war einer der Protagonisten der Revolte in Syrien. Er wurde gefoltert und starb im Gefängnis - mit 26.

Neue Schätzungen zu Toten in Syrien: Das Regime verteidigt sich

Die UN berichtet von 2.600 Toten bei Protesten gegen Syriens Staatschef Baschar al-Assad. Dessen Sprecherin nennt andere Zahlen und kritisiert bei einem Besuch in Russland den Westen.

Reformzusagen zum Trotz: Assads Regime tötet weiter

Widerstrebend hörte sich Syriens Präsident Assad Vorschläge der arabischen Staaten für eine Friedenslösung an. Doch seine Truppen schießen weiter. Die Opposition erklärt den Dialog für nutzlos.

Debatte Geopolitik in Nahost: Iran verliert an Bedeutung

Fällt das Assad-Regime, stürzt Teheran noch lange nicht, aber verliert einen zentralen Partner. Sieger ist die Türkei, die sich strategisch sehr klug positioniert.

Regimegegner in Syrien: Vier Tote bei Militäreinsatz

In der syrischen Stadt Homs haben Armee und Polizei offenbar einen Großeinsatz gegen Regimekritiker begonnen. Vier Menschen wurden von Sicherheitskräften erschossen.

Entwicklungshilfe trotz Regimekritik: Deutsche Gratwanderung in Syrien

Trotz der Sanktionen gegen das Assad-Regime erhält Syrien nach wie vor für einige Projekte Entwicklungshilfe aus Deutschland. Eine schwierige Abwägung.

Entwicklungshilfe in Syrien: Berlin zahlt weiter

Das Niebel-Ministerium finanziert in Syrien weiterhin sechs Entwicklungshilfeprojekte. Diese würden für den Aufbau der Zivilgesellschaft sein – und nicht fürs Regime.

Proteste in Syrien: Trotz Öl-Embargo bleibt Assad hart

Besonders Frankreich prescht nun mit Überlegungen vor, über die bisherigen Wirtschaftssanktionen der EU hinauszugehen. Derweil setzt das Assad-Regime seine Razzien in Protesthochburgen fort.

Sanktionen gegen Syrien: EU verhängt Ölembargo

Erstmals verhängt die EU angesichts der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten Sanktionen gegen Syrien. Frankreich sucht den Dialog mit den Oppositionellen.