taz.de -- Ermitttlungen zum Rechtsterrorismus: Netz der Nazi-Terroristen wächst
Täglich ergeben sich neue Details zur rechten Terrorgruppe NSU. Wie viele Helfer hatte das Trio? Wo versagten die Behörden? Was sind Fakten, was Gerüchte?
Welche Taten gehen auf das Konto des "Nationalsozialistischen Untergrunds"?
Auf einer DVD bekennt sich der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) zu neun Morden an türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern zwischen 2000 und 2006, zum Mord an einer Polizistin in Heilbronn 2007, zu einem Nagelbombenanschlag in Köln 2004 sowie zu einem Anschlag auf einen Lebensmittelladen 2001, bei dem eine Deutsch-Iranerin schwer verletzt wurde. Ein Zusammenhang zu weiteren Taten wird geprüft, darunter ein Anschlag auf jüdische Aussiedler an der S-Bahn-Station Düsseldorf-Wehrhahn im Jahr 2000.
Welche Taten nicht?
Ausgeschlossen haben die Ermittler inzwischen, dass der "NSU" hinter dem Angriff auf den ehemaligen Passauer Polizeichef Alois Mannichl steckt, der 2008 vor seiner Haustür niedergestochen wurde. Auch ein Wohnhausbrand in Ludwigshafen im selben Jahr, bei dem neun türkischstämmige Frauen und Kinder getötet wurden, soll nicht auf die Neonazis zurückgehen.
Wie viele Mitglieder hatte die Terrorgruppe?
Neben den tot aufgefundenen Mundlos und Böhnhardt wird bisher nur der in Köln in U-Haft sitzenden Beate Zschäpe eine Mitgliedschaft in der Terrorgruppe "NSU" vorgeworfen. Sie könnte die Bekenner-DVD verschickt haben und soll auch das Wohnhaus des Trios in Zwickau gesprengt haben, um Beweise zu vernichten. Vier Tage später stellte sie sich. Ob Zschäpe direkt an den Morden beteiligt war, ist unklar. Sie schweigt. Ebenfalls in U-Haft sitzt Holger G., der vor einer Woche bei Hannover festgenommen wurde und dem Trio Führerschein und Pass gegeben haben soll. Auf seinen Namen wurde auch das Wohnmobil für den Polizistinnenmord angemietet. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm Terror-Unterstützung vor.
Wie viele weitere Helfer und Helfershelfer gibt es?
Inzwischen ist die Rede von bis zu 20 Helfern. Die Gruppe sei "abgedeckt gewesen durch ein Umfeld von Unterstützern", sagt BKA-Chef Jörg Ziercke. Generalbundesanwalt Harald Range hat bisher nur von zwei weiteren Beschuldigten gesprochen, zusätzlich zu den in U-Haft sitzenden Holger G. und Beate Zschäpe. Gleichzeitig sagte er aber: "Die Lage ändert sich täglich, wenn nicht stündlich."
Ins Visier der Ermittler geraten sind unter anderem der Mieter der Zwickauer Wohnung, Matthias D., und ein Mann, der beim Erstellen der Bekenner-DVD geholfen haben könnte, Andre E. Bis vor Kurzem betrieb er in Zwickau den Online-Versand "Caput Mortuum" (lat. Totenkopf), sein Bruder ist führender Kader der NPD-Jugendorganisation JN in Potsdam. Laut Spiegel benutzten Zschäpe und Böhnhardt auch BahnCards, die auf Andre E. und dessen Frau lauteten. Darüber hinaus kursieren Gerüchte über mögliche Verbindungen zu weiteren Größen in der Kameradschaftsszene und sogar zu ehemaligen Mitgliedern des NPD-Bundesvorstands.
Wo haben die Sicherheitsbehörden versagt?
Dass die Sicherheitsbehörden Fehler gemacht haben, hat inzwischen auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) eingeräumt, mit ungewöhnlich deutlichen Worten. "Es sieht so aus, als ob einige Behörden kläglich versagt haben", sagte er. Mancher Beamte werde sich "einer peinlichen Befragung unterziehen müssen". Als erstes Bundesland hat Niedersachsen Fehler eingeräumt. So wurde der mutmaßliche Terrorkomplize Holger G. 1999 auf Bitte von Thüringen wegen möglicher Verbindungen zu den Rechtsterroristen observiert, nach wenigen Tagen wurde die Beobachtung aber eingestellt. Noch krasser ist eine Panne in Sachsen im Jahr 2000: Damals schossen Fahnder ein Foto von den untergetauchten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, festgenommen wurden sie aber nicht.
Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz?
Das ist noch unklar. Es zeichnet sich ab, dass vor allem der Thüringer Verfassungsschutz eine fragwürdige Rolle gespielt hat. Neben dem Kopf des "Thüringer Heimatschutzes", in dem sich auch das spätere Terrortrio einst tummelte, soll es Ende der 90er noch zwei weitere V-Leute im Umfeld der drei gegeben haben. Auch der Militärgeheimdienst MAD soll einen V-Mann an ihnen drangehabt haben. Wie Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe trotzdem untertauchen konnten, wird immer rätselhafter. Merkwürdig bleibt auch, dass bei einem der Morde an den Migranten 2006 in einem Internetcafé in Kassel ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes dabei war. Ein Mann, den sie in der Jugend "kleinen Adolf" nannten. Anders als von Bild behauptet, war er aber nicht an weiteren Tatorten. Trotzdem sind nun Bundesanwälte in das hessische Landesamt für Verfassungsschutz eingerückt, um Akten einzusehen - ein einmaliger Vorgang.
Hatten die Terroristen "legale illegale Papiere" vom Staat?
Das Trio hatte gefälschte Papiere. Dass ein Geheimdienst ihnen "legale illegale Papiere" verschafft hat, stimmt nicht. Auch das hatte Bild behauptet, die über die neonazistische Mordserie fast täglich Falsches berichtet und sich inzwischen auf schlüpfrige Schlagzeilen über die "Nazi-Braut" Zschäpe zurückgezogen hat.
Gab es eine "Todesliste"?
Im abgebrannten Haus in Zwickau fanden die Ermittler auf einem USB-Stick mehr als 10.000 Namen und Adressen. Was die Terroristen mit den Listen wollten, ist unklar. BKA-Chef Ziercke hält die Daten für willkürlich zusammengestellt, "ohne Substanz". Anti-rechts-Initiativen fordern, Betroffene rasch darüber aufzuklären, ob sie auf der Liste stehen. Zudem ist ein weiteres Video im Schutt des Hauses aufgetaucht. Dies "DVD 2" war auch im Bekennervideo angekündigt worden. Sie ist aber stark beschädigt und wohl nicht mehr rekonstruierbar.
Wie wird jetzt weiter ermittelt?
Das BKA hat eine Sondereinheit "Trio" zusammengestellt, die rund 200 Beamte umfasst. Dazu kommen 200 Länderpolizisten. Oberstes Ziel ist es, weitere mögliche Mitglieder und Unterstützer ausfindig zu machen. BKA-Chef Ziercke will das komplette Umfeld von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe ausleuchten. Der "Thüringer Heimatschutz" habe ja bekanntlich mal bis zu 180 Mitglieder gehabt, sagte er. Sie alle erwartet nun Besuch der Polizei. Gleichzeitig geht die Aufklärung möglicher Fehler oder gar Verstrickungen der Sicherheitsbehörden weiter. Am Montag trifft sich der Bundestags-Innenausschuss zu einer Sondersitzung, am Mittwoch tagt das Geheimdienstkontrollgremium.
20 Nov 2011
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