taz.de -- Ein Lob auf den Piratenpopulismus: Twittern statt saufen

In der Form rüde, inhaltlich schwach: Die Piraten seien nur der Stammtisch der virtuellen Welt, warnen Mandatsträger. Und der soll nicht in den Bundestag dürfen? Doch!
Bild: Der Erfolg der Piraten ist vor allem ein Erfolg ihres Populismuspotenzials.

Es ist schon ein dreister Verfall der Sitten, eine Bedrohung des Kulturstandortes, das mit den Piraten: Statt zu saufen, gehen manche lieber twittern.

Norbert Lammert (CDU) gehört offenbar auch dazu. Neulich erst mahnte der Bundestagspräsident: Anonyme Beleidigungen im Netz würden zunehmend die Grenzen des Erträglichen überschreiten. Dann, am Wochenende, die wilde Diskussion: Die „Jungen Piraten“ klagten, dass einzelne Twitter-Nutzer aus Reihen der Partei wiederholt durch rassistische und sexistische Äußerungen auffielen – und das Kollektiv sich nicht gebührend wehre.

Das ist die Formkritik. Auch zum Inhaltlichen sind sich viele einig, wenn es um die Piraten geht: Zu wenig Frauenpolitik, schimpft es aus der SPD. Gar nicht liberal, sagen die Neoliberalen. Zu unsozial, meint die Linkspartei. Nix mit Umwelt, maulen Grüne.

Dieser Populismus ist schön und wichtig

In der Form also gerne rüde, inhaltlich schwach – doch laut der jüngsten Umfragewerte sind die Piraten die drittstärkste politische Kraft hinter CDU und SPD auf Bundesebene. In einer Formel heißt das kurz: Der Erfolg der Piraten ist vor allem ein Erfolg ihres Populismuspotenzials. Doch Achtung: Dieser Populismus ist schön und wichtig, der Populismus der Piraten leistet Großes.

Erstens, das ist einfach: Sie politisieren. Die Piraten bieten politikfrustrierten BürgerInnen eine neue Perspektive auf das politische Geschehen an. Die Abgewandten wenden sich. Zugegeben: Das allein ist noch nicht schön genug.

Dazu kommt, zweitens: Der Reiz des Neuen beruht auf einer tiefgründigeren Logik. Die Piraten verbinden sachlogische Ideen mit nur vermeintlich radikalen Utopien. Der fahrscheinlose Nahverkehr, das bedingungslose Grundeinkommen sind zwei Beispiele einer Idee von Politik, die umso logischer wird, je stärker man sich mit ihr befasst. Das ist nicht Populismus pur, sondern ein Hinweis auf eine mögliche Politik mit Perspektive.

Drittens aber, und das ist wertvoll, ist die größte Leistung der Piratenpartei, dass ihr Populismus ohne Fremdenfeindlichkeiten auskommt. Jenseits eines stetig wachsenden europäischen Rechtspopulismus bieten die Piraten als neue populistische Partei Deutschlands Utopien an, denen die Idee einer freiheitlich-humanistischen Migrationspolitik zugrunde liegt.

Was macht die Piraten gefährlich? Nichts

Wer bestreitet, dass dieses – wenn auch noch rudimentäre – Programm der Piraten etwas nützen könnte, sollte zuerst beantworten, was es eigentlich gefährlich macht. Die Antwort: Nichts macht die Piraten gefährlich.

Das ist der Grund, weshalb man sich ihren Populismus für eine Weile gönnen darf. Im guten Fall werden die Piraten zum Ideengeber einer sozialen und demokratischen Tranformation. Ansonsten bleiben sie eben ein Kurzzeitimpuls. Verloren? Nix.

Nun gibt es einen weiteren, wirklich billigen Abwehrreflex, den Piratenpopulismus zu geißeln, wie der höchste Repräsentant aller gewählten Mandatsträger, Norbert Lammert, es tut – weil er sich offenbar der Nacktheit der Kommentare via Twitter nicht mehr verschließen kann. Tatsache, die Piraten gehören zu jenen, die ihre Stammtische ans Tageslicht verlegt haben.

Kaffeekranz und Stammtisch

Aber sind nicht der Kaffeekranz und der Stammtisch die authentischen Foren des politischen Souveräns? Man muss sich in der Illusion der Repräsentativgesellschaft schon ordentlich verloren haben, um immer noch zu meinen, es sei gesünder, die unbehaglichen Parolen aus dem Volksmund auch weiterhin im Dunkel der Dorfschänke gedeihen lassen zu können, ohne sich damit auseinanderzusetzen.

Natürlich: Auch dem intellektuellen Spießertum einer rot-grünen Repräsentativelite sei das zum Selbstschutz gegönnt. Doch diese Ignoranz erst ist die Ursache jener Erfolge, die die Piraten groß machen werden, wenn sie die einzigen bleiben, die jedes Gerede ernst nehmen.

Wem dieses ganze Getwitter zu launig ist, dem sei ein Bad im kalten Rauch des Souveräns empfohlen. Abends ums Eck, beim „Dicken“. Da sitze ich manchmal und streite, mit Molle und Korn, und höre, was der Souverän, der nur wählt, statt zu twittern, so sagt. „Ausländermeute“, „Abschiebehaft“, „alle einen Kopf kürzer“. Aber es stimmt schon: Beim „Dicken“, da wo die Wähler sitzen, da sitzt es sich schlecht. Raucherkneipe. Stinkt noch mehr als bei Twitter.

10 Apr 2012

AUTOREN

Martin Kaul

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