taz.de -- Griechischer Soziologe über die EM: „Es macht überhaupt keinen Spaß"
Der Soziologe Vassilis Tsianos über die unbeliebte griechische Fußballnationalmannschaft und den möglichen Einfluss des Viertelfinal-Einzugs auf die Wahl.
taz: Herr Tsianos, erst mischen die Griechen die Europäische Union auf, dann die Europameisterschaft. Was ist da los?
Vasillis Tsianos: Sowohl fußballtechnisch als auch politisch sind die Griechen das kleine Wunder der Kontingenz. Das heißt: Man kann unter miserablen Bedingungen großartige Spiele spielen. Das gilt für das Ereignis vom Samstag wie auch für das Ereignis vom Sonntag – auch wenn wir zur Stunde das Ergebnis noch nicht kennen.
Macht es Ihnen Spaß, den Griechen bei der EM die Daumen zu drücken?
Auf keinen Fall, es macht überhaupt keinen Spaß. Es macht nur Spaß, Karagounis’ Tor zu sehen oder zu sehen, wie er sich bekreuzigt, um nicht auszuflippen. Und es macht Spaß, zu sehen, wie Samaras es schafft, die Offensive zu organisieren und gleichzeitig bei der Verteidigung zu sein. Aber sonst nicht.
Sie sind trotzdem für Griechenland?
Klaro. Blau-Weiß!
Wie sehen Sie diese Mannschaft im Vergleich zu den Europameistern von 2004?
Ich glaube, sie hat einen besseren Teamgeist. Aber ich beobachte gleichzeitig, dass sie nicht in bester Kondition ist. Und sicher kann man heute die Griechen nicht mehr unterschätzen.
Ist so eine Überraschung wie 2004 noch einmal möglich?
Alles ist möglich. Man darf die Griechen nicht zu sehr ärgern.
Die Nationalmannschaft spielt gegen die von der EU erzwungene Sparpolitik?
Ich kann diese Frage nicht für die Spieler beantworten. Aber sicher kriegen sie die antigriechische Atmosphäre in Europa mit, und soweit ich sie kenne, glaube ich, dass viele von ihnen die blau-weiße Fahne auch für eine neue linke Regierung hissen würden.
Wirkt sich das Weiterkommen der Griechen auf die Wahl aus?
Profitieren könnten jedenfalls alle, die sich nicht dem katastrophalen Neoliberalismus der EU beugen. Aber nach dem Spiel gab es in Athen rassistische Ausschreitungen. Die Nazis haben versucht, aus diesem großartigen Sieg einen rassistischen Sieg zu machen. Gott sei Dank ist das am Samstag marginal geblieben. Es ist also nicht alles gut im Zusammenhang mit diesem Erfolg.
Stimmt die Vermutung, dass kein Team außerhalb des eigenen Landes so wenig Sympathien genießt wie das griechische?
Da haben Sie wohl recht. Aber unter den heutigen Bedingungen ist das etwas Beflügelndes. Man spielt für etwas, was längst als verloren gilt. Und dieses Gefühl, ungerechterweise an die Wand gedrückt worden zu sein, erzeugt eine fantastische Dynamik. Dabei werden die besten Qualitäten der Griechen hervorgeholt.
17 Jun 2012
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