taz.de -- Die jamaikanische Community in London: Bolt in Brixton
Erst 50 Jahre Unabhängigkeit, dann Usain Bolt: Jamaika feiert seine Siege in der Diasporahochburg Brixton. Obwohl Brixton heute schick ist und früh schlafen geht.
LONDON taz | Dichte Rauchschwaden ziehen durch die Electric Avenue. Hähnchenschenkel brutzeln auf Holzkohlegrills, Kinder knabbern an gerösteten Maiskolben, ein Händler köpft Kokosnüsse mit dem Messer trinkfertig. In den Nachbarstraßen pumpen Soundsystems Reggae und Raggamuffin und halten die Menschenmenge in Bewegung.
Tausende sind an diesem Sonntag nach Brixton gekommen, zum Brixton Splash, dem jährlichen Straßenfest der jamaikanischen Diaspora in Londons Süden. Diesmal gibt es mehr zu feiern als sonst: Jamaika begeht am 6. August den 50. Jahrestag der Unabhängigkeit von Großbritannien, und am Abend wird garantiert ein Mann von der Insel die Goldmedaille im 100-Meter-Finale der Männer holen. Jeder zweite Besucher hält eine gelb-grün-schwarze Flagge in der Hand, viele haben sich in den Landesfarben eingekleidet.
Die fröhliche Stimmung lässt vergessen, dass es im Vorfeld des Festes Ärger gegeben hatte. Lee Jasper, Vorsitzender des Splash-Organisationskomitees, hatte die Ladenbesitzer rund um die Electric Avenue namentlich dafür kritisiert, dass sie das Fest nicht finanziell unterstützen wollten.
Diese wehrten sich mit dem Hinweis, dass sie schon genug Geld an Wohlfahrtsorganisationen spenden würden. Lee Jasper, schon in seiner Rolle als Gleichstellungsbeauftragter von Exbürgermeister Ken Livingstone eine nicht ganz unumstrittene Figur, trat daraufhin vom Komiteevorsitz zurück.
Am Festtag aber steht Jasper dennoch auf der zentralen Bühne am Windrush Square, benannt nach dem Schiff, mit dem 1948 die ersten jamaikanischen Migranten zum Wiederaufbau der kriegszerstörten Wirtschaft nach Großbritannien geholt wurden. Er begrüßt Jamaikas Industrie- und Handelsminister Antony Hylton, der zwei Tage zuvor das „Jamaica House“, die offizielle Olympia-Repräsentanz seines Landes, eröffnet hat. Hylton lobt seine Landsleute in der Diaspora für ihre Unterstützung der Spiele. Und natürlich hofft er, dass die jamaikanischen Sporterfolge auf die Ökonomie des Inselstaats abfärben. Die Jamaica National Building Society, über die viele Briten jamaikanischer Herkunft Geldtransfers in ihre alte Heimat abwickeln, sponsert das Splash. Andere jamaikanische Firmen verkaufen Lebensmittel oder Devotionalien.
„Man hielt uns Schwarze für Affen“
Rowena Minott ist extra aus Kingston angereist, um Sonnenbrillen mit einem aus der Zahl 50 geformten gelb-grün-schwarzen Gestell unter die Leute zu bringen. „Das Geschäft geht hervorragend“, freut sich Minott. Eine der Brillenträgerinnen in der Menge ist Barbara Scott, die in Brixton aufgewachsen ist und heute südlich von London lebt. Ihre Eltern kamen in den 50er Jahren nach England. „Damals wurden sie gefragt, wo ihre Schwänze seien. Man hielt uns Schwarze für Affen. Solche dummen Ansichten gibt es heute viel seltener. Wir sind integriert.“
Rassismus mag Geschichte sein, soziale Ungleichheit nicht. „Die weiße Mittelklasse ist nach Brixton gezogen, während sich ärmere Schwarze das Wohnen hier nicht mehr leisten können“, sagt Trevor Bernard, der im Nachbarviertel Stockwell lebt und als junger Mann die „Brixton Riots“ des Jahres 1981 miterlebte. „Die kommen nur noch zum Umsteigen oder Einkaufen hierher.“ Bernard verkauft T-Shirts mit „50 Jahre Unabhängigkeit von Jamaika“ auf der Vorderseite und Usain-Bolt-Logo auf der Rückseite. Das Geld geht an Cafco, eine Organisation, die afrokaribischen Familien in Croydon hilft. „Die schwarze Community hat es weiter nach Süden verschlagen, nach Croydon und Thornton Heath. Und dort sieht es bitter aus.“
Bernard war nicht überrascht, dass die letztjährigen Unruhen Brixton weitgehend aussparten und stattdessen in Croydon besonders heftig wüteten. Er glaubt, dass auch das Splash-Festival Brixton bald in Richtung Croydon verlässt. Doch für Garfield Robinson bleibt Brixton unersetzlich. „Brixton ist genau der richtige Ort, um die Unabhängigkeit Jamaikas zu feiern“, sagt der Geschäftsführer eines afrobritischen Zeitungsverlages. „Wenn ich den großen Baum auf dem Windrush Square sehe, dann fühle ich mich wie daheim, denn er erinnert mich an einen Platz in Kingston.“ Allerdings ist sein Büro nicht in Brixton. Der Verlag ist in billigere Räumlichkeiten in den Docklands gezogen.
Um 19 Uhr schon wird dem Splash der Stecker gezogen. Die Polizei bezieht Stellung. Public Viewing wird es in Brixton nicht geben. Im Electric, einem Nachtclub, findet die Afterparty statt. Hier soll die Fernsehübertragung des 100-Meter-Finales auf einer Großleinwand gezeigt werden. Die Türsteher am Eingang sind nervös, lassen Wartende nur in großen Abständen rein, mit Personenkontrolle. Der Andrang bleibt aus. Zehn Pfund Eintritt ist zu teuer, bemängelt einer der Ragga-MCs, die am Nachmittag auf der Hauptbühne standen.
Hauptsache Gelb-Grün-Schwarz
Während die Bilder aus dem Olympiastadion über die Leinwand flimmern, beschallt der DJ den großen, halb leeren Saal. Stimmung kommt im Electric erst beim Einzug der 100-Meter-Finalisten ins Stadion auf. Die Fläche vor der Bühne füllt sich. Fahnen schwingen. Die Scheinwerfer der Kameras fokussieren auf tanzende junge Frauen. Der dritte jamaikanische Sprinter, Asafa Powell, erhält sogar einige Buhs. Usain Bolt wird natürlich frenetisch begrüßt. Nicht wenige der Gäste tippen allerdings auf Yohan Blake als den Sieger dieses Laufs aller Läufe.
Nach dem Startschuss toben und hüpfen die Zuschauer. Dass Bolt [1][nach 9,63 Sekunden siegt], freut auch die, die eine andere Prognose gewagt hatten: Hauptsache, der Sieger hängt sich die gelb-grün-schwarze Flagge um die Schultern.
Die ikonische Pose Bolts wird im jubelnden Saal dutzendfach imitiert. Draußen herrscht derweil Stille. Die Straßen sind längst leer, die letzten Händler bauen ihre Stände ab. Man hört nicht einmal, wie drinnen im Electric die Songs von Bob Marley erschallen, gespielt von Rico und der Brixton Town Band. Nur ein einsamer Trommler an der U-Bahn-Station versucht noch, ein wenig Stimmung aufrechtzuhalten. Ansonsten bleibt diese karibische Nacht unter sich.
6 Aug 2012
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
In Brixton wehren sich Einwanderer gegen Behördenwillkür. Denn plötzlich müssen sie ihren Aufenthaltsstatus nachweisen.
Die Briten feierten jeden und alles. Selbst der Name eines britischen Punktrichters war ihnen Anlass für frenetischen Applaus. Dennoch: Usain Bolt überschattete alles.
Die Amerikaner stellen den Weltrekord ein und sind wieder nur Zweiter, weil die Jamaikaner mal eben neuen Weltrekord laufen. Und um Platz Drei gibt spielt sich eine Tragödie ab.
Er ist der schnellste Mann der Welt und weiß sich in Szene zu setzen: Usain Bolt flirtet mit Journalisten, gibt den Arroganten und sieht sich selbst schon als Legende.
Usain Bolt hat wahr gemacht, was er permanent predigt: Er ist und bleibt die Nummer Eins. Im schnellsten olympischen Rennen aller Zeiten siegt er vor seinem Landsmann Yohan Blake.
Migranten aus Somalia sind in Londons Multikulti-Hierarchie weit unten. Aber jetzt holt einer Gold und wird zum Helden: Mo Farah, Sieger des 10.000-Meter-Laufs.
Die Jamaikanerin hat schön lackierte Fingernägel und eine gelbe Schleife im Haar. Dann läuft sie los und holt sich Gold. Knapp, aber so ist das eben beim 100-Meter-Lauf.
Sie ist schon für Kuba und den Sudan gestartet. Jetzt möchte die Dreispringerin für Großbritannien eine Medaille gewinnen. Ihr Weg nach London war entbehrungsreich.
Während der Sommerspiele treten viele im Schnellverfahren eingebürgerte Sportler für Großbritannien an. Boulevardzeitungen schimpfen auf die „Plastik-Briten“.