taz.de -- Kolumne Am Gerät: Der Speer

Sie war mal eine gute Siebenkämpferin. Davon wusste der Chef aber nichts. Sie aber wusste, das er Kampfrichter bei Leichtathletikveranstaltungen war.
Bild: War sie wirklich übergetreten?

Schwester Britta ging noch einmal zum Spiegel. Da war sie wieder, diese Röte. Als sie an ihn dachte, daran, dass er gleich seine große Hand auf ihren Rücken legen würde, schoss ihr das Blut ins Gesicht.

In zehn Minuten würde Dr. Bruhns, den sie so gerne Dietrich nennen würde, seine Kaffeepause beendet haben, würde zu ihrem Platz am Empfang kommen, eine Hand auf ihren Rücken legen und fragen: „Na, was steht denn heute noch an?“ Für Dr. Bruhns mochte es nur ein Ritual sein, für Schwester Britta war es mehr. Wenn er sie berührte, genoss sie diesen Moment der Intimität.

Schwester Britta wusste alles über ihren Chef. Auch dass er im Sommer unterwegs war, um bei Leichtathletikveranstaltungen als Kampfrichter gesellschaftliches Engagement zu zeigen. Der blaue Blazer, den er dabei meist anhatte, stand ihm beinahe ebenso gut wie der Kittel.

Er aber wusste nichts über sie. Auch davon, dass sie einmal eine gute Siebenkämpferin war, die bei deutschen Meisterschaften zwei Mal unter die ersten Zehn gekommen ist, hatte er keine Ahnung. Seit ein paar Wochen trainierte sie wieder. Schwester Britta hatte sich vorgenommen, Dr. Bruhns bei den deutschen Meisterschaften in der Altersklasse W40 zu beeindrucken.

Und tatsächlich warf sie den Speer weiter, als sie es sich selbst zugetraut hätte – fast 30 Meter. Danach stand er vor ihr, legte seine Hände auf ihre Schultern und blickte sie mit seinen meerblauen Augen an. „Schwester Britta“, sagte er. „Ja“, hauchte sie und schloss die Augen. „Übergetreten, der Wurf ist ungültig“, sagte er. Und wieder hauchte sie: „Ja?“

Am Abend, wieder einmal allein in ihrem Bett, dachte Schwester Britta noch lange über diesen Tag nach. Sie wusste, dass sie sich in Dr. Bruhns nicht getäuscht hatte. Einen aufrichtigeren Menschen hatte sie nie kennengelernt. Er wollte seine Mitarbeiterin nicht bevorteilen.

Morgen würde er seine Hand wieder auf ihren Rücken legen. Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Sie konnte nicht einschlafen. Warum hatte er sich so lange mit der späteren Siegerin unterhalten? Warum ist sie dann in sein Auto gestiegen? War sie wirklich übergetreten?

8 Aug 2012

AUTOREN

Andreas Rüttenauer

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