taz.de -- Interview mit Christine Lieberknecht: „Die FDP-Klientel will Mindestlöhne“
Die große Koalition Thüringens geht jetzt mit einem Gesetz für einen einheitlichen Mindestlohn in den Bundesrat - CDU und FDP im Bund sind sauer.
taz: Frau Lieberknecht, Sie fordern einen bundesweiten Mindestlohn für alle Branchen und Regionen. Damit stellen Sie sich gegen die Bundes-CDU…
Christine Lieberknecht: Nein, das Thüringer Konzept ist ganz im Gegenteil nah an dem der Bundes-CDU. Auch wir wollen, dass sich die Tarifpartner in einer Kommission auf einen einheitlichen Mindestlohn einigen, und sich die Politik raushält.
Der Wirtschaftsflügel der CDU und die FDP sind trotzdem empört. Lasse Becker, Chef der Jungliberalen, wirft Ihnen sogar politische Demenz vor.
Ich kenne den Koalitionsvertrag im Bund, den ich übrigens nicht mit erarbeitet habe. Ich kenne die Parteitagsbeschlüsse der CDU, aber auch die Lebenswirklichkeit der Thüringer. Und sage ganz klar: Ich kann, über 20 Jahre nach der deutschen Einheit, nicht akzeptieren, dass Lohnuntergrenzen weiterhin nach Himmelsrichtungen oder nach Branchen unterschieden werden.
Wie wollen Sie Ihre Gegner überzeugen?
Wir haben in einer Arbeitsgruppe mit Wissenschaftlern ausführlich das Für und Wider von Mindestlöhnen diskutiert und einen Kompromiss zwischen SPD und CDU erreicht. Damit gehen wir offensiv in die Bundespolitik. Ich bin überzeugt, das Thüringer Modell ist ein Kompromiss, der auch auf Bundesebene für die Parteien tragbar ist. Man muss jetzt darüber in aller Ruhe im Bund diskutieren. Ich setze auf die Kraft der Argumente.
Wie scharf waren denn die Auseinandersetzungen mit der SPD in Thüringen?
Wir haben hart gerungen. Die SPD war schließlich bereit, auf ihre Forderung von 8,50 Euro zu verzichten und die Entscheidung über die Lohnhöhe in die Hand der Tarifpartner zu legen. Darüber war ich sehr froh, denn dieser große Schritt war die Voraussetzung für eine Einigung.
Im Abschlussbericht der Thüringer SPD-CDU-Arbeitsgruppe „Gute Löhne“ wird aber doch eine konkrete Zahl genannt, nämlich 8,33 Euro Stundenlohn für den Einstieg.
Das ist anders zu verstehen. Wir beschreiben, welche branchenweiten Mindestlöhne derzeit bereits in Deutschland existieren. Das sind beispielsweise 8,33 Euro für die Abfallwirtschaft in Ost und West. Aber ich werde keine konkrete Zahl in die Diskussion werfen.
Wie sieht die Niedriglohnlandschaft in Thüringen aus?
300.000 Beschäftigte können nicht allein von ihrer Hände Arbeit leben, in ganz Deutschland sind es fast sieben Millionen. Ich bin der CDU 1990 auch beigetreten, weil sie für das Ludwig Erhardt’sche Motto vom „Wohlstand für alle“ stand. Das erreichen wir aber nicht, wenn sich der Niedriglohnsektor ausweitet.
Ein Standardargument lautet: Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze. Das schreckt Sie nicht?
Ich habe ganz andere Sorgen. Mit Löhnen am unteren Ende bekommen wir auf Dauer nicht die Fachkräfte, die wir brauchen. Das ist eines der wichtigsten Themen in Thüringen, die Unternehmen suchen zum Teil händeringend Azubis. Und aus dem Handwerk, der klassischen FDP-Klientel, kommt die Bitte: „Schafft Voraussetzungen für einen Mindestlohn, denn wir brauchen Schutz vor Billigangeboten.“
Welche Bundesländer außer etwa Brandenburg und dem Saarland unterstützen Sie?
Es gibt positive Rückmeldungen aus einzelnen Ländern, die nehme ich zur Kenntnis. Grundsätzlich sind sich alle Ministerpräsidenten einig, dass wir eine Lohnuntergrenze brauchen. Die Frage ist, wie kommen wir dahin? Das Gewinnen von Mehrheiten ist harte Arbeit, und da stehen wir am Beginn. Aber ich gehe davon aus, dass wir noch in diesem Jahr einen von der Mehrheit der Länder getragenen Gesetzentwurf aus dem Bundesrat an den Bundestag überweisen können.
17 Sep 2012
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