taz.de -- Entscheidung von Ägyptens Präsident: Amnestie für Demonstranten

Mehrere tausend Personen, die während der Revolution inhaftiert wurden, können betroffen sein. Eine Entschädigung für die Haftzeit ist nicht geplant.
Bild: Die inhaftierten Unterstützer der Revolution sollen wieder freikommen.

KAIRO/BERLIN dapd/taz | Nach 100 Tagen im Amt hat der ägyptische Präsident Mohammed Mursi alle politischen Gefangenen begnadigt, die wegen des Volksaufstands gegen den gestürzten Machthaber Husni Mubarak verhaftet wurden. Mit dem Dekret sollen all diejenigen freikommen, die in Verbindung mit Aktivitäten „zur Unterstützung der Revolution“ eingesperrt wurden.

Davon könnten laut BBC mehrere tausend Demonstranten profitieren, gegen die derzeit Prozesse laufen oder die bereits verurteilt wurden. Die Amnestie bezieht sich auf den Zeitraum zwischen dem 25. Januar 2011, dem ersten Tag der Revolution, bis zum 30. Juni 2012, der matsübernahme Mursis.

Sein Rechtsberater Mohammed Gadallah sprach von „einem der wichtigsten Siege der Revolution“.

In dem Erlass vom Montag werden der Generalstaatsanwalt und der Militärankläger aufgefordert, binnen vier Wochen eine Liste mit den Namen all derer vorzulegen, die für eine Amnestie infrage kommen.

Auch die Teilnehmer der Demonstrationen gegen den Militärrat, der Mubarak zunächst ablöste, sind davon erfasst. „Das zeigt, dass die Revolution nun an der Macht ist und Entscheidungen lenkt“, sagte Gadallah. Das Justizsystem werde die Revolutionäre schützen.

Mursi hatte seit seinem Amtsantritt Ende Juni schon mehr als 500 Zivilisten begnadigt, die von Militärtribunalen verurteilt worden waren. Mehr als 12.000 Ägypter waren wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Hooliganismus vor Militärtribunale gestellt worden.

Nicht weit genug

Nach Angaben der Gruppe „Nein zu Militärtribunalen“ sind noch mindestens 5.000 politische Gefangene in haft. Ausgenommen von der Amnestie sind Angeklagte, die sich wegen vorsätzlichen Mords verantworten müssen.

Ahmed Seif, Mitglied eines von Mursi eingesetzten Komitees zur Prüfung von Rechtsfällen, die aus der Revolution stammen, beurteilte das Dekret differenziert. „Es ist ein großer Schritt, aber nicht genug“, sagte Seif. „Jetzt wird es Diskussionen dazu geben, wie die Begnadigungen umgesetzt werden.“

Er erwarte, dass dies Monate dauere. Menschenrechtsanwalt Mohammed Abdel-Asis sagte, die Amnestie komme etwas spät und hätte mit Entschädigungszahlungen verknüpft werden sollen.

9 Oct 2012

TAGS

Ägypten

ARTIKEL ZUM THEMA

Neue Verfassung in Ägypten: Tauziehen geht in die nächste Runde

Ist das Gremium, das derzeit in Kairo die Verfassung erarbeitet, rechtens? Das muss nun das Verfassungsgericht entscheiden. Und Islamisten und Liberalen streiten weiter.

Kommentar Ägypten: Demokratische Seifenoper

Die Ironie in Kairo: Die Unabhängigkeit der Justiz wird im neuen Ägypten verteidigt – um einen Mubarak-Mann im Amt zu halten.

Gewaltenteilung in Ägypten: Peinliche Niederlage für Mursi

Der Präsident wollte den Obersten Staatsanwalt feuern und muss einen Rückzieher machen. Anlass waren die Freisprüche im „Kamelschlacht“-Verfahren.

Gewalt in Ägypten: Brennende Mursi-Plakate

Die politischen Gräben sind tief: In Ägypten haben sich säkulare Aktivisten Straßenschlachten mit Anhängern von Präsident Mursi geliefert. Steine flogen, Busse brannten.

Debatte Arabischer Frühling: Ägypten nicht verstehen

Junge Liberale in Ägypten kritisieren Präsident Mursi scharf. Da kann es passieren, dass man beim Abendessen auf einmal die Muslimbrüder verteidigt.

Debatte Arabellion: Der Staat ist nicht alles

Ägyptische Frauen sind die Verliererinnen und die Gewinnerinnen der Revolution zugleich. Das ist ein Widerspruch? So ist es nun einmal.

Ägypten sortiert sich neu: Mursi fordert Militärrat heraus

Das Oberste Verfassungsgericht prüft die Wiedereinberufung des Parlaments. Präsident Mursi hatte mit dem erneuten Zusammenruf einen ersten Schritt gegen die Generäle unternommen.

Mursis Wahlsieg in Ägypten: Star für eine Nacht

Nach den Präsidentschaftswahlen in Ägypten jubeln die einen, während andere Angst haben. Der Sieger Mohammed Mursi schlägt versöhnliche Töne an.

Ägypten nach der Wahl: Algerische Schatten über Kairo

Je länger sich die Wahlergebnisse verzögern, desto mehr fürchten die Menschen in Ägypten, dass das Militär um jeden Preis die Macht behalten will.

Ägypten vor der Präsidentschaftsstichwahl: Ein eindeutiges Sowohl-als-auch

Die Muslimbrüder, stärkste politische Kraft des Landes, sehen untätig zu, wie das Militär ihnen per Parlamentsauflösung die Errungenschaften der Revolution nimmt.