taz.de -- Debatte Nigeria: Kill and go
Deutschland will Nigerias Sicherheitskräfte im Kampf gegen Islamisten unterstützen. Doch die Polizei ist für ihre Brutalität berüchtigt.
Nigerias Nordosten gleicht einem Bürgerkriegsgebiet: schwer bewaffnete Kontrollpunkte, nächtliche Hausdurchsuchungen, Schießereien und Bombenanschläge. Der Konflikt um die islamistische Boko-Haram-Sekte hat seit 2010 über 1.400 Tote gefordert. Die dschihadistische Gruppe betrachtet selbst demokratische Wahlen als westliches Teufelszeug.
Wer nicht in ihr Weltbild passt, muss um sein Leben fürchten, ganz gleich ob Christ oder Muslim. Nigerias Präsident spricht von der schwersten Krise seit dem Biafrakrieg (1967–70). Damals wäre das Land fast auseinandergebrochen.
Ein instabiles Nigeria hat Westafrika gerade noch gefehlt. Dessen Länder versuchen entweder, sich nach jahrelangen Bürgerkriegen wieder aufzurappeln, oder sie stehen vor Problemen mit Militärcoups oder Islamisten – wie Mali, das bis zum Militärputsch im Januar als demokratischer Vorbildstaat galt.
Wenn die Boko-Haram-Terroristen mit ihren Glaubensbrüdern in Mali gemeinsame Sache machen würden (noch scheint sich die Kooperation in engen Grenzen zu halten), könnte das Westafrika auf Jahre hinaus destabilisieren.
Verständlich, dass Europa daran interessiert ist, die Konflikte beizulegen. Bundesaußenminister Guido Westerwelle versprach daher zum Abschluss seines Nigeriabesuchs im November, Nigerias Sicherheitskräfte durch Ausbildungsprogramme zu unterstützen. Auch in Mali will sich die Bundesregierung im EU-Rahmen durch Berater und logistische Unterstützung militärisch engagieren.
Doch was bringen solche Ausbildungsprogramme eigentlich? In Nigeria gibt es sie nämlich schon seit Jahren. Großbritannien etwa hat die nigerianische Polizei zwischen 2002 und 2007 für über 40 Millionen Euro trainiert. Menschenrechte und moderne Konzepte wie Community Policing standen dabei auf der Agenda.
Katastrophale Menschenrechtsbilanz
Das Ergebnis der Ausbildungsprogramme ist ernüchternd: Sie werden kaum systematisiert, stattdessen gibt es einen unkoordinierten Wirrwarr von Trainings. Und während einige der auf die operative Polizeiarbeit bezogenen Techniken zwar angewandt werden, ist die Menschenrechtsbilanz der nigerianischen Polizei (im Volksmund „Kill and go“ genannt) katastrophal.
Mindestens 2.500 Nigerianer, so eine Schätzung der nationalen Menschenrechtskommission, werden jährlich ohne Gerichtsverfahren von „ihrer“ Polizei erschossen. Manchmal genügt es, an den im Land üblichen Straßensperren das Bestechungsgeld zu verweigern.
Auch Nigerias Armee ist nicht zimperlich. Etliche Putschgeneräle der Vergangenheit, wie Sani Abacha, Ibrahim Babangida und Muhammadu Buhari, wurden in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien ausgebildet (wie auch der Anführer des Militärcoups in Mali, Amadou Sanogo).
Im Nigerdelta hat sich das Militär einen grauenvollen Ruf erworben, als es Proteste gegen die Ausbeutung der Region durch internationale und nigerianische Ölfirmen brutal niederschlug. Das Ergebnis war ein jahrelanger gewaltsamer Aufstand.
Ohne demokratische Kontrolle
Gerade im Kampf gegen Boko Haram verletzen Militär, Polizei und Geheimdienste in der Joint Task Force (JTF) systematisch Menschenrechte, wie ein Bericht von Amnesty International bestätigt. JTF-Mitglieder exekutieren demnach unschuldige Bürger, brennen Häuser nieder und lassen Verdächtige verschwinden.
Während des Besuchs von Westerwelle berichtete die BBC, dass mindestens vierzig Jugendliche ohne Verfahren durch Sicherheitskräfte auf einem Feld hingerichtet wurden. Der Gründer von Boko Haram, Mohammed Yusuf, wurde 2009 wohl im Polizeigewahrsam exekutiert, was die Radikalisierung der Sekte vorantrieb. Unabhängige Untersuchungen oder Gerichtsverfahren gegen die Täter gibt es so gut wie nie.
Nigerias Sicherheitskräfte operieren weiter ohne demokratische Kontrolle, ohne Rechtfertigungsdruck und ohne Strategie. Eine Gruppe von Dorfältesten fordert daher bereits den Abzug der JTF aus dem Nordosten.
Verfahren werden verschleppt
Die Hintermänner des Terrors dagegen, die selbst der Präsident in den Reihen von Politikern und Sicherheitskräften vermutet, werden wohl ungestraft davonkommen. Zwei Senatoren etwa stehen unter dem Verdacht, Boko Haram unterstützt zu haben. Doch die Verfahren werden verschleppt.
Hinzu kommt die massive Korruption, die es einigen wenigen Politikern, Militärs und Geschäftsleuten erlaubt, ein Leben in Reichtum zu führen, während über 60 Prozent der Bevölkerung in absoluter Armut leben.
Kürzlich wurde bekannt, dass Nigerias Eliten in den letzten zehn Jahren über die Öl- und Gasindustrie knapp 80 Milliarden Euro gestohlen haben. Auch das Sicherheitsbudget ist ein Haupteinfallstor für Selbstbereicherung, weil es kaum öffentlicher Kontrolle unterliegt. Im Zuge des Kampfs gegen Boko Haram hat es der Präsident auf mittlerweile knapp 5 Milliarden Euro hochgeschraubt, etwa 20 Prozent des Gesamtetats. Geld für Trainings wäre also da, aber es wird wohl wie so oft in dunklen Kanälen verschwinden.
Investitionen haben Vorrang
Dass Nigeria kaum ausgebildete Sicherheitskräfte in den Kampf schickt, liegt also nicht am Mangel an Kapazitäten, sondern an einem von Korruption und Menschenverachtung geprägten System. Solange es nicht den politischen Willen aufbringt, den Kampf gegen Boko Haram unter Einhaltung der Menschenrechte und auch im politischen Establishment zu führen, werden internationale Ausbildungskurse nichts nutzen.
Man könnte über diese Themen sprechen, etwa in der binationalen Kommission, die Nigeria und Deutschland 2011 ins Leben gerufen haben. Aber die befasst sich vor allem mit wirtschaftlichen Fragen: mit Nigerias Energieressourcen und deutschen Investitionsmöglichkeiten.
Es ist ein merkwürdiger westlicher Reflex, anzunehmen, afrikanische Probleme seien immer durch externes Geld und Training lösbar. Die Realität ist komplexer, die Gefahr, nur den Lückenbüßer für korrupte Bürokratien zu spielen ist groß.
Auch in Nigeria gibt es schließlich genug engagierte Bürger, die in Zivilgesellschaft, Gewerkschaften, Justiz und Medien unter großen Gefahren arbeiten und internationale Unterstützung gut gebrauchen könnten.
4 Dec 2012
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