taz.de -- Kommentar Unruhen in Belfast: Irre - und ihre Interessen

Hinter dem Streit um die britische Flagge auf dem Belfaster Rathaus stehen handfeste Interessen. Die Protestanten fürchten um ihre Mehrheit.

Von außen betrachtet erscheint Nordirland als Heimat von Irren: [1][Da toben seit Wochen Straßenschlachten wegen einer Flagge]. Aber hinter dem Streit, an wie vielen Tagen im Jahr der Union Jack über dem Belfaster Rathaus wehen darf, stecken handfeste Interessen.

Als die Insel 1921 in den Freistaat Irland und das bei Großbritannien bleibende Nordirland geteilt wurde, hatte man die Grenze so gezogen, dass die Protestanten eine komfortable Zweidrittelmehrheit stellten. Und diese Mehrheit schloss die Katholiken jahrzehntelang nicht nur von der Macht aus, sondern auch von Jobs, Sozialbauwohnungen und Wahlrecht bei Lokalwahlen, bis es Ende der sechziger Jahre zum Konflikt kam, der mehr als 3.500 Menschen das Leben kostete.

Die Mehrheitsverhältnisse haben sich seitdem verschoben, die Protestanten stellen nur noch 48 Prozent der Bevölkerung, 45 Prozent sind Katholiken. Seit 2001 ist die protestantische Mehrheit von 150.000 auf 50.000 geschrumpft. Die Protestanten befürchten – auch in Anbetracht der Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland – den Zerfall des Vereinigten Königreichs. Ihre Angst ist unbegründet. Die Mehrheit der Katholiken gibt ihre nationale Identität als „nordirisch“ an, sie ist mit dem Friedensprozess zufrieden und strebt nicht unbedingt nach einem vereinigten Irland.

Dass trotzdem keine Annäherung der beiden Bevölkerungsgruppen stattgefunden hat, ist auch Schuld der Unionsparteien in der Mehrparteienregierung. Die haben 40.000 Flugblätter verteilt, auf denen sie die Befürworter des Vorschlags, den Union Jack nur noch zu besonderen Anlässen zu hissen, als „Flaggenschänder“ diffamieren. Das ist ein Eigentor, denn so düpieren sie den katholischen Bevölkerungsteil mit nordirischer Identität, den sie für den Beibehalt der Union mit Großbritannien benötigen.

6 Jan 2013

LINKS

[1] /Eskalation-im-Nordirlandkonflikt/!108527/

AUTOREN

Ralf Sotscheck

TAGS

Flaggenstreit
Belfast
Belfast
Belfast
Nordirland
Protest
Schwerpunkt Abtreibung

ARTIKEL ZUM THEMA

Irischer Künstler über den Flaggenstreit: „Es ist eine verrückte Situation“

Der Künstler Robert Ballagh über die Krawalle in Belfast, die Verantwortung der Protestanten beim Flaggenstreit und den Friedensprozess.

Ausschreitungen in Nordirland: Steinwürfe und Straßensperren

Mindestens 29 Polizisten wurden bei neuen Protesten in Belfast verletzt. Rund 30 Millionen Euro an Schäden sind bislang entstanden.

Ausschreitungen in Belfast: Nacht der Gewalt

In Nordirland geht der Kampf um die britische Flagge weiter. Die Polizei fürchtet Trittbrettfahrer, die noch mehr Gewalt auslösen können.

Ausschreitungen in Belfast: Union Stress

Die Krawalle in der nordirischen Hauptstadt dauern an. Der Grund: Die Flagge Großbritanniens soll nur noch selten über öffentlichen Institutionen wehen.

Eskalation im Nordirlandkonflikt: Schüsse auf Polizisten in Belfast

Der Streit um den Union Jack auf dem Belfaster Rathaus ist wieder eskaliert. Loyalisten randalierten nach einer Demo. Die nächsten Aktionen sind bereits angekündigt.

Protest in Nordirland: Kampf um die britische Flagge

Auf dem Rathaus von Belfast soll nur noch an Feiertagen der Union Jack aufgezogen werden. Die Folge ist Dauerrabatz für den Verbleib im Vereinigten Königreich.

Protestanten und Katholiken in Irland: Vereint gegen Frauenrechte

Die Religionsgemeinschaften in Irland sind sich spinnefeind. Doch vor der ersten Abtreibungsklinik des Landes protestieren sie gemeinsam.