taz.de -- 100. Tour de France: Trampeln wie die Viecher

Seit hundert Jahren wird die Tour de France als Drama von Leid und Heldentum inszeniert. Und ist ohne Dopingmittel für die Athleten kaum zu bewältigen.
Bild: So als Radprofi hat man's auch nicht leicht. Hier: Tour de Suisse.

Der Journalist Alfred Londres hatte seine liebe Mühe, zu stenografieren, was da aus Henri Pelissier heraussprudelte. „Nicht genug, das wir trampeln müssen wie die Viecher“, ätzte Pelissier, „wir sollen auch erfrieren und ersticken. Wir sind wirklich nicht faul, aber um Gottes willen, erniedrigt uns nicht. Der Sport ist vollkommen wahnsinnig geworden.“

Die Klagen aus dem Mund des Rennfahrers hatten sich offensichtlich seit Langem angestaut. Es war die dritte Etappe der Tour de France 1924. Der Mitfavorit Pelissier war nach der Hälfte der Strecke ausgestiegen und saß nun in einem Café in Coutances und wetterte gegen die für die Rundfahrt Verantwortlichen.

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, war die Rüge eines Rennkommissars am Start in Cherbourg an jenem Morgen. Weil es in den frühen Morgenstunden noch empfindlich kühl war, hatte sich Pelissier mehrere Trikots übereinander angezogen, die er im Verlauf des Tages dann bei steigenden Temperaturen abwerfen wollte. Das widersprach jedoch dem Artikel 48 der Tour-Regularien, der das Verschwenden von Sponsorenmaterial verbot – Pelissier musste die äußeren Schichten wieder ausziehen. Der Bericht, den Londres noch am Abend an seine Zeitung in Paris durchgab, schlug hohe Wellen. Londres nannte die Tour-de-France-Fahrer „Strafgefangene der Landstraße.“

Die kommunistische Zeitung L’Humanité griff das Thema auf und bezeichnete das Unternehmen Tour als ein zynisches „Brot und Spiele“-Spektakel seines kapitalistischen Veranstalters, an dem die Arbeiter, die Fahrer, die ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel setzten, nur zu 10 Prozent mitverdienten. „Wie ein Fabrikbesitzer verlangt [Tour-Veranstalter] Henri Desgrange immer größere Produktivität mit immer weniger Sicherheit und immer größerer Ermüdung. Das Resultat: Unfälle, Stürze, Todesfälle, Männer im Krankenhaus.“

Die Tour de France hatte ein PR-Problem, nicht zuletzt auch, weil Pelissier vor Londres ausgebreitet hatte, was er in seinen Trikottaschen mit sich führte, um die Strapazen der Tour auszuhalten: Kokain für die Augen, Chloroform für den Mund, schmerzlindernde Cremes für die Knie und eine bunte Auswahl von Amphetamintabletten.

Das passte so gar nicht zum Bild des „edlen Giganten der Landstraße“, das Desgrange so gerne entwarf, vom armen Fabrikarbeiter, der durch die weitaus noblere Arbeit im Sattel zu einem besseren Menschen wird. In einer Zeit, in der sich die einstige Weltmacht nach der Niederlage gegen die Deutschen 1871 vor Verfall und Degeneration fürchtete, so schreibt der amerikanische Tour-Historiker Christopher Thompson, war die Tour eine Hoffnung auf die Wiederbelebung der Grande Nation.

Die Tour ist kein Spiel

Sie vereinte technischen Fortschritt – das Fahrrad – mit dem Bild stählerner und unerschöpflicher französischer Körper, denen die Deutschen sicher nichts würden entgegensetzen können. Es war ein gänzlich neuartiges, durch und durch modernes Sportereignis, zu dem diese Vision führte. Vom olympischen Ideal des Amateurismus war keine Rede, die Tour war kein „Spiel“ sondern „Arbeit“. Es hieß „faire le cyclisme“, im Gegensatz etwa zu „jouer au football“.

Wesentlich unverhohlener noch als die kurz zuvor wiederbelebten Olympischen Spiele, die vordergründig humanistische Werte wie Fairness und Ritterlichkeit propagierten, huldigte der Radsport schamlos dem, was der Sportsoziologe Günther Gebauer die „Maschinenideologie vom menschlichen Körper“ nennt.

Die Schriftstellerin Colette etwa bezeichnete die unermüdlichen Beine der Akteure 1913 bewundernd als „Kolben“, die „präzise und hart wie pneumatische Bohrer“ auf die Pedale fallen. Zwischen dem Fahrer und seiner Maschinenhaftigkeit stand nur die menschliche Unvollkommenheit, die sich in der Ermüdung zeigte. In deren Überwindung entspann sich das Drama der Tour, das die Massen seit jeher faszinierte: ein Drama von Leiden und Heldentum.

Erstaunlich ist, dass die Ausbeutung jenes Leidens zum Zweck der Massenunterhaltung nicht häufiger zu Protesten durch die Leidenden führte. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Pelissier der Einzige, der sich offen auflehnte; die Diskussion, die er angestoßen hatte, war 1947 wieder weitgehend verstummt – vielleicht auch, weil es der Arbeiterschicht im neuen Sozialstaat deutlich besser ging. Nur noch einmal streikten die Fahrer danach, im Jahr 1978. Nach einer hart umkämpften Pyrenäenetappe in sengender Hitze und einem langen Transfer waren sie erst um Mitternacht in die Hotels gekommen. Am nächsten Tag sollten sie um fünf Uhr aufstehen, um zu einem weiteren Tagesabschnitt über 254 Kilometer anzutreten.

Empörung der Radler

Sie verbummelten den Tag, kamen mit zwei Stunden Verspätung im Zielort Valence d’Agen an und spazierten unter lauten Pfiffen des Publikums gemütlich zu Fuß über die Ziellinie. Das nächste Mal streikten Rennfahrer beinahe exakt 20 Jahre später, diesmal allerdings nicht mehr, um gegen die brutalen Arbeitsbedingungen zu protestieren. Vielmehr beklagten sich die Sportler diesmal über die Razzien und Festnahmen durch die französische Polizei, die sich endlich dazu entschlossen hatte, ihre seit knapp zehn Jahren vorliegende Antidopinggesetzgebung konsequent anzuwenden. Die Empörung richtete sich nicht mehr gegen die unmenschlichen Anforderungen an die Sportler, sondern dagegen, dass man ihnen die Mittel wegnehmen wollte, mit denen sie diesen Anforderungen gerecht werden konnten.

Es war die Fortsetzung jener Haltung, die im Peloton schon zu hören war, als Mitte der 60er Jahre im Zuge eines gesamtgesellschaftlichen Antidrogenkampfs in Frankreich Dopingtests eingeführt wurde. Man empfand es als Eingriff in die Privatsphäre, als unwürdig und als Behinderung der Berufsausübung. Die Fahrer spielten stolz und bereitwillig die Rolle als Übermenschen und Helden, die ihnen im Drama der Tour zugewiesen wurde, wollten aber nicht gefragt werden, wie sie das bewerkstelligen.

Das klassenkämpferische Bewusstsein eines Pelissier war ihnen längst abhandengekommen. So setzte sich der fünffache Tour-Sieger Jacques Anquetil noch nach dem Dopingtod des Engländers Tom Simpson 1967 für die kontrollierte Gabe von Stimulanzien ein. Begründung: Ohne sie würde die Tour so langsam und unspektakulär, dass kein Mensch mehr würde zuschauen wollen.

Die Tour-Organisatoren bekannten sich öffentlich zum Antidopingkampf, Jacques Goddet, der Nachfolger von Henri Desgrange, unterstützte ihn formal auf ganzer Linie. „Alle legalen, moralischen, spirituellen und wissenschaftlichen Kräfte müssen vereinigt werden, um die moralische Ordnung wiederherzustellen“, sagte er.

Keine Entschleunigung

Die Härten der Tour de France wollte er jedoch nicht abmildern, das widerspreche „dem Lauf der modernen Welt, die zu immer größerer Beschleunigung“ neige. Der inhärente Widerspruch zwischen moralischer Reinheit und dem Ideal grenzenlosen technischen Fortschritts fiel ihm indes nicht auf. Fans und Sponsoren dankten es Goddet und seinen Nachfolgern: Die Tour de France ist als Sportereignis eine ungebrochene Erfolgsstory. Daran konnten auch die Skandale von 1998 und die Enthüllungen seit 2006 nichts ändern.

Nur Tage nach den Razzien von 1998 standen die Massen dicht gedrängt am Straßenrand, und auch 2007, als die französischen Zeitungen nach dem Ausschluss des Führenden Michael Rasmussen sowie des gesamten Astana-Teams den Tod der Tour auf der Titelseite proklamierten, blieben die Anhänger ungerührt. Die Show ging weiter. Seither ist in Radsportkreisen nun viel von einem Kulturwandel und einer neuen Generation die Rede. Als Beweis wird angeführt, dass die Dopingtests besser geworden sind, dass zahlreiche Exprofis ihre Dopingvergangenheit gebeichtet haben und das erwischte Doper von ihren Kollegen entschieden geächtet werden.

Die Ära des Lance Armstrong, der dem Ideal des Maschinenmenschen näher kam als jeder seiner Vorgänger, ist angeblich vorbei. Doch Skepsis ist angebracht. Die Tour ist im Kern noch immer eine Inszenierung des heroischen Leidens und eine Vergötterung des Rad-Roboters. Das offizielle Jubiläumsvideo verspricht „Tapferkeit“ und „Eroberung“ als Untertitel zu den Bildern von schroffen Berggipfeln und verzerrten Gesichtern früherer Heroen. Eine der beliebtesten Tour-Dokumentationen der vergangenen Jahre heißt „Höllentour“, und in den USA trainieren Zehntausende von Hobbysportlern zu einem Trainingsvideo mit original Tour-Bildern namens „Sufferfest“.

Ob das Doping ein wenig abgenommen hat, ist dabei letztlich nachrangig. So hat der Sportsoziologe Eugen König in seiner „Kritik des Dopings“ schon 1993 dargelegt, dass mit der Einnahme verbotener Mittel bei der Technisierung des Körpers im Hochleistungssport keine qualitative Grenze überschritten wird, die nicht vorher schon längst überschritten worden wäre. Doping ist für König nur Symptom einer tiefer liegenden Perversion – der „grenzenlosen Selbst- und Fremdausbeutung“ beim rastlosen Streben nach Superlativen, nach Selbstüberschreitung des Menschen. Das ist selbstverständlich kein Charakteristikum des Radsports allein, sondern des modernen Profisports überhaupt.

Aber die Tour de France steht wie kein anderes Sportspektakel für die kompromisslose Zelebration jener Utopie, die zur Entstehungszeit des Rennens große Macht über die Fantasie der Massen ausübte. Und das im Prinzip bis heute noch tut.

28 Jun 2013

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