taz.de -- Kolumne: Wirtschaftsweisen: Tu etwas für Mutter Erde, sammle Dosen!

Von einem literarischen Elends-Index und dem Superstar der Kapitalismuskritik.
Bild: Dosensammeln hilft auch gegen Schuldgefühle.

Die Wissenschaft ist grobschlächtig, das Leben subtil, deswegen brauchen wir die Literatur, meint Roland Barthes. Erschwerend kommt noch hinzu: Die theoretische Ökonomie überlässt die „Gesellschaft“ der Soziologie, und diese klammert darin die Ökonomie aus. Die Literatur aber ist geeignet, Schlaglichter auf beider blinde Flecken zu werfen und sie in der Geschichte ihrer Protagonisten zusammenzuführen.

Der Wissenschaftsjournalist der SZ, Christian Weber, berichtete jüngst über ein Forschungsprojekt des Anthropologen Alexander Bentley an der University of Bristol, in dem mit einem „Literarischen Elends-Index“ Wirtschafts- und Sozialgeschichte erhellt wurde: Mithilfe einer Datenbank von Google, in der man bis jetzt acht Millionen Bücher einscannte, konnte gezeigt werden, „dass sich in der Wortwahl englischsprachiger Bücher, die zwischen 1929 und 2000 veröffentlicht wurden, die ökonomische Lage der jeweiligen Epochen widerspiegelt“.

Die Texte wurden danach durchsucht, „wie häufig bestimmte emotionale Wörter vorkommen, die auf Basisemotionen wie Ärger, Ekel, Angst, Freude, Trauer oder Überraschung hindeuten“. Der daraus entstandene „literarische Elends-Index“ stimmte ziemlich genau mit einem ökonomischen Elends-Index überein, der sich aus den Inflations- und Arbeitslosenraten aus jenem Zeitraum zusammensetzte.

Allerdings hinkt der literarische laut Christian Weber dem ökonomischen zehn Jahre hinterher. So lange brauchten die Autoren wohl, um die sozialen Verwerfungen, die sie unter Umständen in jungen Jahren selbst erlebten, künstlerisch zu verarbeiten. Konkret bezog sich das Projekt auf die ökonomischen Krisen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, auf die große Depression in den USA ab 1929 und die Stagflation – wenn Stagnation und Inflation zusammenkommen – in den Siebzigern.

Was aber ist mit der Verelendung, die durch den Neoliberalismus in den Achtzigerjahren, forciert noch nach Auflösung des Sozialismus, einsetzte – und die noch anhält. Hierzu erschienen – ebenfalls mit etwa zehnjähriger Verspätung – eine Unmenge Sachbücher: allein unter dem Stichwort „Neoliberalismus“ listet Amazon 918 deutsche Titel auf. Hinzu kommen noch mehr als dreimal so viele Titel zu Unterthemen wie „Landgrabbing“ (50), „Verelendung“ (72), „Finanzkrise“ (2.286) – und bedeutsam besonders in Berlin: „Prekariat“ (103), „Mietwucher“ (12) und „Gentrifizierung“ (111). Jede Menge Titel finden sich auch zu Überthemen wie „Marxismus“ (4.941) und „Kapitalismuskritik“ (226).

Slavoj Zizek, laut Zeit der „Superstar der Kapitalismuskritik“, meinte unlängst in der Volksbühne: „Die Mächtigen legitimieren sich heute mithilfe von technologischen Autoritäten: Vermeintliche Experten inszenieren sich als Problemlöser. Dabei ist oft schon die Art und Weise, wie ein Problem formuliert wird, irreführend. In der Ökologie ist beispielsweise von Mutter Erde die Rede. Was soll das sein? Die Prämisse einer radikalen Ökologie müsste lauten: Die Natur gibt es gar nicht. Sie ist kein harmonisches Ganzes, sondern selbst voller Katastrophen. Und das vom Einzelnen geforderte ökologisch korrekte Verhalten ist erst recht ideologisch – tu etwas für Mutter Erde, sammle deine Cola-Dosen. Das ist eine geniale Operation. Du fühlst dich schuldig, und gleichzeitig bietet man dir einen einfachen Ausweg an. Doch die wahren Ursachen bleiben unangetastet: unsere Fertigung von Waren.“

Das heißt, der gesellschaftliche Zusammenhang stellt sich im Kapitalismus nicht über gemeinschaftliche Produktion her, sondern über individuellen Warentausch, deswegen gibt es zum Stichwort „Konsum“ die meisten Buchtitel (3.162), wenn auch viele eher „Shoppingtipps“ sind. Erinnert sei an den ehemaligen US-Präsidenten George Bush, der nach Twintower-Attentat, Hurrikan „Katrina“ und Finanzkrise, als der gesellschaftliche Zusammenhang ernsthaft gefährdet schien, den Konsum zur patriotischen Pflicht erklärte.

19 Jan 2014

AUTOREN

Helmut Höge

TAGS

Kneipe
taz.gazete
BIP
FDP
Arbeitsmarkt

ARTIKEL ZUM THEMA

Kolumne Wirtschaftsweisen: Verdammte Branche!

Immer öfter muss man sich in Kneipen an einer Ausgabestelle einreihen: das McDonald’s-Prinzip. „Selbstbedienung“ nennt sich das. So wird Personal gespart.

Kolumne Wirtschaftsweisen: Schon Engels litt unter Gentrifizierung

Die Gentrifizierung hat das Wohnen zum Problem gemacht. Was sagen die Philosophen dazu?

Deutschland in Öko- und Sozial-Ranking: Gut zu Tieren, aber ungerecht

Ein neuer Index vergleicht Länder nach ihrer sozialen und ökologischen Entwicklung. Deutschland landet im oberen Drittel, Neuseeland ist top.

Kolumne Wirtschaftsweisen: In den Sand gesetzt

Ob Australien, Namibia oder Odessa: Heimatliche Erde wird weltweit hoch gehandelt. Und landet am Ende nicht selten in Berlin.

Liberalismus für Grüne: Aus den Fängen der FDP befreit

In seinem Buch „Machtwirtschaft – nein danke!“ richtet der Grüne Gerhard Schick Wirtschaftspolitik aufs Gemeinwohl aus. Eine Besprechung.

Globaler Arbeitsmarkt: Krise ohne Ende

Die Zahl der Arbeitslosen ist weltweit um fünf Millionen gestiegen. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation sind Jugendliche besonders stark davon betroffen.