taz.de -- Die Wahrheit: Leitfarbe Lila

Tagebuch einer Urbanista: Bei der grassierenden, politisch korrekten E-Mobility kann ab und an das wilde Bedürfnis nach Vespa-Fahren enstehen.
Bild: Soll man ein Bühnenstück das „Die Neger“ heißt, in „Die Weißen“ umbenennen dürfen?

Im Berliner Helmholtzkiez war für 2015 ein E-Mobility Festival geplant. Die Idee bestand darin, einen Monat lang Abgase und Lärm von einem 800 mal 800 Meter großen Areal fernzuhalten und umweltfreundliche Transportmittel einzusetzen. Dazu wären, wie schon in der Vorreiterstadt Suwon in Südkorea, die Autos der Anwohner auf entfernte Parkflächen verbannt worden, die Tram hätte im Dauerrhythmus verkehrt, und Elektromobile hätten die Bewohner sanft hin und her geshuttelt.

Auf diese Weise sollte nicht nur die Umwelt geschont, sondern, so las man, „Platz für Spielflächen, Cafés und Theater“ geschaffen werden. Endlich Spielplätze und Cafés im ohnehin schon dauerbespielten Helmholtzkiez!

Dann wurde das Ganze wegen Politikerzoff abgesagt. Nun begegnet man im Straßenbild häufig strategisch platzierten Elektroautos, die meist ein Aufmerksamkeit erweckendes Oberflächendesign haben, am liebsten ganzseitige Beschriftung mit hohem Lila-Anteil – die werbenden Fahrzeuge sollen schließlich wahrgenommen werden. Die Vorstellung, ein von der Leitfarbe Lila geprägter Fuhrpark könne irgendwann das Straßenbild bestimmen, verursacht jedoch manchen Menschen körperliches Unwohlsein.

Recherchen im Internet ergaben verwirrende Vielfalt, was das Erscheinungsbild von Vehikeln betrifft, die den modernen Stadtbewohner, ginge es nach ihren Herstellern, zukünftig transportieren sollen. Eines sah aus wie ein Kinderüberraschungsei, in das Gucklöcher gepult waren. „Downsizing, Downspeeding und Downnumbering. Wenige, kleine und ruhige, dem menschlichen Maß angemessene Transportmittel sollten das Stadtbild prägen“, erklärte 2013 der Initiator des jetzt geplatzten E-Mobility Festivals.

„Little cars that go beep, beep, beep, little voices goin’ peep, peep, peep …“ Oh, Randy Newman, du weisester aller Songschreiber, ahntest lange schon, was auf uns zukommt!

Es wäre noch zu erwähnen, dass innerhalb eines Monats eine Million Besucher in Suwon einfielen. Für den Helmholtzkiez – mit seiner Bevölkerungsdichte von 24.751 Menschen pro Quadratkilometer – hätte das bedeutet, von umgerechnet täglich 33.333 Leuten zusätzlich heimgesucht zu werden. Klar bräuchte es da mehr Cafés und vor allem Ablenkung durch Straßentheater! Für die Schauspieler hätten sich Mediatorenkurse empfohlen, im Falle, dass sich die vom Kaffee aufgeputschten E-Mobilisten auf ihren Segways in die Quere gekommen wären. Den Platz der exilierten Anwohnerautos hätten Dixi-Klos eingenommen, und der tonnenweise produzierte Abfall wäre sicher in erneuerbare Energie umgewandelt worden.

Es mag sein, dass urbanes Lebensgefühl auch ohne zugeparkte Wohnstraßen, Dauerbelieferungen und „Verpiss dich, du blockierst mein Auto!“-Gebrüll möglich ist, aber aller Verkehrsberuhigung trotzend und gegen jede Einsicht wächst in mir gerade das wilde Bedürfnis, auf einer Vespa rasend die Stadt zu verpesten, bevor ich in lila Elektro-Kinderüberraschungseiern feinstaubfrei und geräuschlos ins urbane Lala-Land gleite.

14 May 2014

AUTOREN

Frankenberg

TAGS

Klopapier
Müll
Schwerpunkt Rassismus
Uli Hoeneß
Tierwelt

ARTIKEL ZUM THEMA

Die Wahrheit: Restschopf über Schädelpunkt

Die Hair-&-Tattoo-WM wird ohne Deutschland zwischen Ghana, Chile, Holland, Brasilien, Portugal und den USA entschieden.

Die Wahrheit: Schutzbarriere gegen Vorrunden-Aus

Wo hat die Inspiration, einen Erlösungsschrei auf Klopapier zu drucken, ihren Ursprung genommen? Man möchte es gar nicht wissen.

Die Wahrheit: Schatzsuche im Müllcontainer

Tagebuch einer Picknickerin: Männer können so sinnlos gründlich sein, dass man als Frau gezwungen ist, nach so manchem fischen zu gehen.

Die Wahrheit: Der Weißenkuss

Protest geschieht sofort und reflexartig, geht es bei den schönen Künsten um die Auseinandersetzung mit Rassismus.

Die Wahrheit: Sägemehl aus der Knasttischlerei

Tagebuch einer Steuereintreiberin: Wer Profite in die Wohltätigkeit statt in die Steuer fließen lässt, spaltet die Gesellschaft.

Die Wahrheit: Emotional überforderter Dobermann

Tagebuch einer Tier-Apokalyptikerin: Auch im Urlaub auf Mallorca lässt die alarmierend ansteigende Gewalt VON Tieren keine Erholung zu.