taz.de -- Gamification und Biopolitik: Nur Punkte im System
In „Vax“ muss der Spieler eine Epidemie eindämmen. Da lässt sich lernen, was mit dem Leben des Einzelnen im Ausnahmezustand passiert.
Ein roter Punkt kündigt die kommende Katastrophe an. Immer schneller breitet sich die Warnfarbe auf die anderen Punkte in dem dreidimensionalen Geflecht aus. Mehr geschieht nicht in „Vax“. Das einfache Onlinespiel wurde an der Pennsylvania State University entwickelt und soll als Lehrmaterial zur Ausbreitung infektiöser Krankheiten dienen.
Lernen kann man aus dem Spiel viel: nicht nur über Epidemien, sondern vor allem über die Mechanik der Macht, die zum Schutz der Gemeinschaft ihr brutalstes Gesicht zeigt. Angesichts zum Beispiel der Zustände in Westafrika, wo sich die Ebola-Epidemie immer schneller ausbreitet, ist das hochaktuell.
Die Theorie zur Praxis liefert der italienische Philosoph Giorgio Agamben. In „Homo sacer“ untersucht er, wie der Souverän in der Krise agiert. Agamben interessiert der Ausnahmezustand, indem das Individuum außerhalb des Rechts gesetzt wird – vorgeblich, um die Gesellschaft als Ganzes zu erhalten.
Die Gesellschaft ist am „Vax“-Bildschirm nicht mehr als eine graue Fläche, darauf ein ungeordnetes Gitter. Die bewegliche dreidimensionale Grafik aus Punkten und Verbindungslinien repräsentiert soziale Verflechtungen. Jeder graue Punkt ist ein gesunder, jeder rote Punkt ein kranker Mensch. Die Krankheit selbst bleibt namenlos, ist aber hochansteckend. Der Spieler muss eine begrenzte Anzahl von Impfdosen so einsetzen, dass sich die Epidemie möglichst langsam ausbreitet. Ist sie einmal ausgebrochen, lässt sie sich nur noch eindämmen, indem der Spieler einzelne (gesunde) Punkte per Klick in die Quarantäne schickt.
Der Arzt als Polizist
Man stellt sich vor, wie Gesundheitsbehörden genau solche Szenarien im Blick haben: Impfungen, Seuchenschutz, Quarantäne, Netzwerke erkennen, Infektionswege unterbrechen. Der Einzelne ist nur ein Punkt, der „Gesamtkörper“ muss geschützt werden. Die Mittel dafür? Im Ernstfall wird der Arzt zum Polizisten; er begründet qua Amt den Ausnahmezustand.
„Die Äußerlichkeit – das Naturrecht und das Prinzip der Erhaltung des eigenen Lebens – ist in Wahrheit der innerste Kern des politischen Systems.“ Erst im Ausnahmezustand zeigt sich, welche Macht dieses System über das Leben ausübt. Im Spiel geht es um eine Gesellschaft unter Seuchengefahr, doch das Gitternetz lässt sich beliebig auf andere – tatsächliche oder vermeintliche – Krisensituationen anwenden: die Kontrolle des Einzelnen, seine Isolierung und schließlich seine Entfernung aus der Gesellschaft.
West Point, das Stadtviertel in der Hauptstadt Liberias, das wegen der Ebola-Epidemie abgeriegelt wurde, oder Sierra Leone, wo eine dreitägige Ausgangssperre verhängt ist, um die gesamte Bevölkerung testen zu können, sind nur zwei aktuelle Beispiele der Militarisierung der Gesundheitspolitik. Es ist noch keine dreißig Jahre her, dass der CSU-Politiker Peter Gauweiler die „Absonderung“ von HIV-Infizierten und Zwangstests für „Ansteckungsverdächtige“ forderte. Die Idee existiert überall und der Weg zum Lager ist nicht weit.
Nacktes Leben
Das Lager aber ist, nach Agamben, die perfekte Repräsentation des Ausnahmezustandes. Es ist der Ort, an dem für die roten Punkte der rechtsfreie Raum beginnt. Ihr nacktes Leben trifft dort auf nackte Macht. Dabei sind sie nicht dort, um eine Schuld zu sühnen. Kein Gericht hat die Menschen in West Point verurteilt, ihre Quarantäne ist keine Strafe. Trotzdem wird der Versuch, das Gefängnis zu verlassen, mit Waffengewalt verhindert. Sie sind Punkte an der falschen Stelle im Netz. Das verbindet sie mit den Insassen von Guantánamo und Flüchtlingen im europäischen Asylsystem: Im Namen des Rechts werden sie ihrer Eigenschaft als politische Subjekte beraubt. Sie sind nicht mehr als ihre bloße Existenz.
Im Regelfall bleiben dem Bürger solch offene Machtdemonstrationen erspart. Doch auch ihn kann der Ausnahmezustand schnell einholen. Dann wird er plötzlich zu einem Punkt unter Punkten, wird ausgeforscht und kontrolliert. Ob Terrorgefahr oder Epidemien, es gibt viele Gründe, warum der Bürger seinen Status als Rechtssubjekt verlieren kann. Das geht schon im ganz Kleinen los. Irgendwo lauert immer die kleine Schwester des Ausnahmezustands, die „Gefahr im Verzug“, jene beliebig einsetzbare Begründung für polizeiliche Zwangsmaßnahmen.
Bei Agamben: „Der Ausnahmezustand ist damit nicht mehr auf eine äußere und vorläufige Situation faktischer Gefahr bezogen und tendiert dazu, mit der Norm selbst verwechselt zu werden.“ Der Philosoph bezieht sich hier auf den Nationalsozialismus, stellt ihn aber absichtlich in den heutigen Erfahrungshorizont. Der Ausnahmezustand erscheint im ersten Moment immer als Maßnahme, die aus Vernunft, als Schutz vor Gefahr ergriffen wurde. Und eben da liegt das Problem.
Es ist vernünftig, Menschen zu impfen und potentiell Infizierte unter Quarantäne zu stellen. Es ist vernünftig, Infektionswege zu Lehrzwecken mit simplen Grafiken darzustellen. Welche konkreten materiellen und unmenschlichen Folgen diese Vernunft aber haben kann, lässt sich nicht zuletzt in West Point beobachten. Noch leben dort mehr als 60.000 – potentiell rote – Punkte.
13 Sep 2014
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