taz.de -- Der Weg zur Uni: Man nennt mich Bildungsaufsteiger

Jedes Kind kann es nach oben schaffen, wenn es sich bildet. So das Aufstiegsversprechen. Aber wo sind die Hürden? Unser Autor erzählt von seinen.
Bild: Dann, endlich, die Uni. Unterstützung bekam unser Autor von seinem Bruder.

Es ist mittlerweile achtzehn Jahre her, dass ich von der Grundschule auf die Gesamtschule ging. Die erste Selektion. Warum ich nicht direkt auf das Gymnasium geschickt wurde? Ich weiß es nicht mehr. Aber es schmerzte, dass meine besten Freunde auf das Gymnasium meiner Heimatstadt gegangen sind. Ich durfte dafür in eine andere Kleinstadt im Speckgürtel von Frankfurt am Main fahren, morgens hin, mittags zurück. Meine Eltern schickten mich auf die gleiche Schule wie meinen Bruder drei Jahre zuvor. Auch er sollte zunächst auf die Gesamtschule wechseln.

Neues Umfeld, neue Mitschüler. Die 5. und 6. Klasse durchliefen die Schüler bei uns die sogenannte Förderstufe. Die gibt den Schülern zwei Jahre mehr Zeit, bevor entschieden wird, auf welchen Schulzweig die Schüler kommen. Mit dem Halbjahreszeugnis der 6. Schulklasse werden die Eltern darüber informiert, welchen zu erwarteten Bildungsweg ihre Kinder einschlagen werden. Die Lehrer in den drei Hauptfächern – Deutsch, Englisch, Mathe – entscheiden dann, wo es hingehen soll. In meinem Fall sagten sie: Gymnasium, Gymnasium, Hauptschule. Da meine Mathematikleistungen nicht den Ansprüchen eines potentiellen Gymnasialschülers entsprachen, traf man sich in der Mitte: Ich wurde auf den Realschulzweig geschickt. Die zweite Selektion.

Ich war frustriert, ich hatte keinen Bock mehr, und das Gefühl, dass die Lehrer mich falsch eingeschätzt hatten. Ich wäre gern aufs Gymnasium gegangen. Die 7. Klasse war das absolute Chaos. Grob geschätzt die Hälfte meiner Mitschüler war aufgrund ihres Auftretens und ihrer Einstellung zur Schule, völlig ungeeignet für den Realschulzweig. So ließ ich mich mit meinen 13 Jahren von ihnen im Unterricht ablenken.

Ich konnte mich nicht mehr gut konzentrieren, wurde unaufmerksam. Darunter litten meine mündlichen Noten. Ich gebe nicht meinen damaligen Mitschülern die Schuld. Sondern diesem Aussortieren in die unterschiedlichen Schulzweige. Mein Selbstbewusstsein litt darunter. Und meine Motivation. Die „Chaotenklasse“ bestärkte nur diesen Prozess. Es zog sich dann wie ein roter Faden bis zum Realschulabschluss.

Meine Eltern unternahmen viel. Sie zahlten mir den Nachhilfeunterricht in Mathematik, sie halfen mir bei den Hausaufgaben. Doch ich war stur und träumte vor mich hin. Die Rückschläge durch mittelmäßige Noten taten ihr übriges.

Nicht jeder Gymnasiast ist automatisch klüger

Ein Höhepunkt war ganz sicher die Ankündigung in der 9. oder 10. Klasse zu einem Schüleraustausch nach England. Hauptschüler waren von vornherein ausgeschlossen. Realschüler benötigten mindestens die Note „gut“. Gymnasiasten hingegen mussten keinerlei Anforderungen erfüllen, um teilnehmen zu können. Wie unfair – und kontraproduktiv. Grundlegende Englischkenntnisse gehören inzwischen zum Standard – beruflich wie privat.

Warum sollten es die einen nötiger haben als die anderen? Abgesehen davon, dass nicht jeder Gymnasiast automatisch motivierter, klüger oder geeigneter für einen Austausch ist. Mit solchen Entscheidungen nimmt man den Haupt- und Realschülern den Mut und den Willen, mehr erreichen zu wollen – und fördert das Klassendenken. Meine Note war zu schlecht. Ich durfte nicht mitfahren.

Den Realschulabschluss machte ich mit einem Notendurchschnitt von 3,3. Mediengestalter war damals mein Ziel. Völlig utopisch. Schon zu dieser Zeit, 2003, benötigte man einen sehr guten Realschulabschluss oder das Abitur. Ähnlich bei einigen kaufmännischen Berufen. Ich ging auf die Höhere Handelsschule, eine Art Schnuppervorbereitungskurs für eine kaufmännische Lehre. Danach war ich immer noch planlos.

Es folgten Praktika in der Hotel- und Werbebranche. Auch eine Schreinerei durfte mal ran. Alles nichts. Ich schrieb mehrere Bewerbungen für kaufmännische Ausbildungsberufe, ich erhielt nur Absagen. Nach einem vierwöchigen Aufenthalt in Vancouver entschied ich mich für eine kaufmännische Ausbildung im elterlichen Betrieb. Meine Eltern haben eine eigene Filiale einer großen Autovermietung. Franchise sozusagen. Ich hatte Angst, was andere Leute darüber denken. Ich fühlte mich als Verlierer. Als einer, der nichts erreichen würde, der aus der Not geboren bei seinen Eltern eine Ausbildung absolvieren muss. Mein Selbstbewusstsein war am Boden. Doch diese Zeit veränderte mein Leben.

Noch in meiner Schulzeit hatte ich angefangen, mich für Politik zu interessieren. Ausschlaggebend waren die Anschläge auf das World Trade Center, sowie die Kriege in Afghanistan und im Irak. Mein politisches Wissen blieb jedoch recht oberflächlich. Dann, während der Ausbildung bei meinen Eltern, las ich jeden Tag Zeitung. Ich sah, wie hart meine Eltern arbeiten mussten, um die monatlichen Kosten zu decken und noch genügend Geld für ihren eigenen Bedarf zur Verfügung zu haben. An der Berufsschule lernte ich viel über Wirtschaftspolitik.

Mein Bruder half

Ich wollte mehr. Mehr als eine Ausbildung. Politik studieren, einen Beruf ausüben, bei dem ich etwas verändern kann. Meine Vorstellungen und Ziele veränderten sich radikal. Nach der Ausbildung machte ich mein Fachabitur mit dem Schwerpunkt Wirtschaft. Es folgte ein Soziologiestudium. Ich, der ich dafür anfangs nicht vorgesehen war.

Ich hatte im Studium wenige Probleme. Anfangs fiel mir das Lesen wissenschaftlichter Literatur sehr schwer, aber in meinem Freundeskreis erging es jedem so, egal, auf welche Schule er gegangen war. Größere Schwierigkeiten hatte ich trotzdem keine, zu mal in meiner Familie immer viel gelesen wurde. Bei Hausarbeiten half mir mein Bruder. Er studierte Filmwissenschaften und hat schon im Teenageralter begonnen Gedichte und Kurzgeschichten zu schreiben.

Mein Bruder war für mich eine große Stütze im Studium. Ich denke, dass viele Faktoren eine Rolle spielen, ob man als Nicht-Akademiker-Kind den Unialltag erfolgreich meistert. Die Unterstützung aus der Familie ist am wichtigsten, aber auch die sozialen Kontakte, die man während des Studiums aufbaut. Schwierig wird es, wenn die finanziellen Mittel fehlen. Ich erhielt Bafög, habe nebenbei arbeiten müssen, und wurde finanziell von meinen Eltern unterstützt. Bei vielen anderen Studierenden ist das nicht der Fall.

Die Ganze Geschichte „Das Versprechen“ über Bildungsaufsteiger und den sogenannten Akademisierungswahn lesen Sie in der taz.am wochenende vom 25./26. April 2015.

25 Apr 2015

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Simon

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