taz.de -- Schwedisches Gesundheitssystem: Ersteinschätzung aus der Ferne
Die gesetzlichen Krankenkassen fordern eine Art Ferndiagnose zur Klärung, ob ein Arztbesuch nötig ist. In Schweden ist dieses Modell bereits üblich.
Es ist kurz vor acht am Morgen – jetzt aber schnell, sonst sind die Termine vergeben. Der Anrufbeantworter des Gesundheitszentrums fragt, ob ich ein neues Rezept brauche, einen Termin absagen oder mit einer medizinischen Fachkraft sprechen möchte. Ich drücke die entsprechende Taste. „Wir rufen gegen 8.40 Uhr zurück“, sagt die Stimme.
Wenn das Telefon dann klingelt, ist es ein bisschen wie vor einem Berliner Club. Ob ich hereingelassen werde, hängt nur bedingt von mir ab. Einmal hatte ich starke Schmerzen im Knie, konnte nicht laufen. Die medizinische Türsteherin fragte mich ab: „Sind die Schmerzen plötzlich aufgetreten?“ Ja. „Sind Sie gestürzt?“ Nein. „Haben Sie ihr Knie in den letzten Tagen ungewöhnlich stark belastet?“ Natürlich, so fing es ja an, ich habe exzessiv renoviert. Das Urteil: Offenkundig eine Überlastungsreaktion. „Legen Sie das Bein hoch, nehmen Sie entzündungshemmende Schmerzmittel, warten Sie ab. Gute Besserung.“
Es ist vor allem diese Ersteinschätzung aus der Ferne, [1][für die in Deutschland derzeit die gesetzlichen Krankenkassen werben], in Kombination [2][mit einem einheitlichen Terminvergabe-Portal]. Das schwedische System gilt als positives Beispiel. Tatsächlich gehen die Menschen in Schweden deutlich seltener zum Arzt.
Für verwöhnte Deutsche kann der im System eingebaute Mangel an Selbstbestimmung frustrierend sein. Aber die Anspruchshaltung, dass man jederzeit ein Recht auf ärztliche Beachtung hat, wird einem dann so langsam abtrainiert. Es gilt stattdessen darauf zu vertrauen, dass der Körper vieles selbst klärt – und dass die für die Ersteinschätzung ausgebildeten Menschen wissen, was sie tun.
Ohne akuten Handlungsbedarf kein Termin
Vielleicht rufen Sie zum Beispiel mal an, weil in Ihren Augenwinkeln immer wieder Blitze zu sehen sind, die da vorher nicht waren. „Passt Ihnen 14 Uhr?“, sagt die Türsteherin dann. Eine Ärztin guckt darauf und schreibt in Ihre digitale Patientenakte eine Eil-Überweisung zur Augenklinik. Es sei wichtig, ernsthafte Netzhautprobleme auszuschließen. Sie erfahren dann noch, bei welcher Symptomveränderung Sie direkt zu einer Notaufnahme eilen sollten. Drei Tage später ruft die Augenklinik an: „Können Sie in zwei Stunden da sein?“ Interessant, denken Sie dann vielleicht, das ging ja jetzt ganz geschmeidig.
Ohne akuten Handlungsbedarf also kein Termin, so ist die Regel in Schwedens überwiegend steuerfinanziertem Gesundheitssystem. Und ein Termin heißt auch nicht unbedingt ärztliche Begutachtung – viele Beschwerden werden einfach von medizinischen Fachangestellten behandelt.
Was auf die Warteliste und zu einem Termin nach mehreren Monaten führen kann, sind etwa wiederkehrende Beschwerden, die man endlich mal untersuchen lassen will.
Auch die landesweit gültig Nummer 1177 ist für medizinische Beratung zuständig. Aber in der schwedischen Gesundheitsversorgung gibt es auch dabei regionale Unterschiede: Nicht überall lassen sich über die 1177 – per Telefon oder in der App – auch physische Arzttermine buchen. Wenn der Rat dann lautet: „Rufen sie Ihr Gesundheitszentrum an und bitten Sie um einen Termin“, erscheint die 1177-Anfrage eher wie ein überflüssiger Schritt.
Noch läuft in Schweden also vieles per Telefon. Und wer die 1177-App gar nicht nutzen will, bekommt auch Befunde, Röntgentermine und Ähnliches weiterhin per Post.
Teile der Debatten ähneln sich
Die in Deutschland umstrittene und 2013 wieder abgeschaffte Praxisgebühr – zehn Euro pro Quartal – war übrigens vergleichsweise ein Schnäppchen. In Schweden sind, je nach Region, Gebühren zwischen 200 Kronen und 370 Kronen (derzeit zwischen 18 und 34 Euro) pro Besuch fällig, bis zum Erreichen der jährlichen Obergrenze von umgerechnet rund 130 Euro. Wer zu einem Termin ohne frühzeitige Absage nicht erscheint, zahlt ebenfalls. Und Medikamente sind bis zu einer Maximalsumme pro Jahr selbst zu zahlen – die Summe wurde gerade von umgerechnet rund 270 auf 350 Euro erhöht.
Bei dem Ziel, medizinisch unnötige Praxisbesuche einzuschränken, ist Schweden offenkundig weiter als Deutschland. Trotzdem klagen auch in Schweden Menschen, dass früher alles besser war. Es gibt Kritik an steigenden Gebühren, häufig wechselnden Kontaktpersonen, zu weiten Entfernungen oder zu langen Wartezeiten, etwa bei geplanten Operationen oder der Behandlung psychischer Erkrankungen. Teile der Debatten ähneln sich – ebenso wie die Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung im weltweiten Vergleich immer noch ganz gut dasteht.
24 Dec 2025
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