taz.de -- berliner szenen: Das Große im Kleinen

Der Einlass verzögert sich. Etwa 100 Menschen warten auf die „Fabelhaften Millibillies“. Kleine, Mittlere, Große, ein Grips-Theater-Publikum aus drei Generationen steht in der Schlange. Erstaunlicherweise kommt kein Unmut auf. Ein Mädchen erzählt von Emilia, der Hauptperson, die sie schon aus einem anderen Millibillie-Stück kennt. Es klingt, als sei Emilia eine von ihr bewunderte Schülerin aus der Oberstufe.

Was das Mädchen erzählt, ruft bei anderen Wartenden Erinnerungen wach. Eine Frau weiß noch genau, wie ihr zumute war bei dem Stück „Ab heute heißt du Sara“. Ich soll auch eine Erinnerung beisteuern. Aber gerne. Wenn ich nur eine einzige Szene nennen dürfte, dann wäre es diese aus dem Musical „Linie 1“: Ein altes Ehepaar in der U-Bahn. Der Mann trägt gestrickte Fausthandschuhe, den Daumen steckt er in die Handfläche. Genervt zieht seine Frau ihm den leeren Strick-Finger über den Daumen. Stoisch zieht der alte Mann ihn wieder zurück. Immer wieder. Dietrich Lehmann erntet in dieser Szene anhaltendes Lachen, ich grinse immer noch, und gleichzeitig ist in diesen wenigen Sekunden der Widerspruchsgeist konzentriert, der das Grips-Theater ausmacht.

Das Große im Kleinen. Auch heute begeistert die Kinder, wenn Emilia sich nicht alles gefallen lässt, wenn sie zeigt, was sie kann. Sie spielt mitreißend, ihre Band schöpft aus herrlichen Arrangements, das Publikum wird zum Mitsingen animiert, sogar zum Tanzen, je älter, desto entschlossener, besonders bei dem Lied „Ich will ganz weit weg verreisen“. Es endet allerdings mit der Zeile „aber Heimweh hab ich eigentlich schon jetzt“. Ein Kind flüstert hörbar, es habe auch schon Heimweh. „Können wir noch mal hierher kommen?“ Unbedingt. Auch mit der nächsten Generation.

Claudia Ingenhoven

30 Jan 2025

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Claudia Ingenhoven

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