taz.de -- Protestwoche gegen die AfD: Polarisiert euch!
Wie man die Spaltung der Gesellschaft überwindet? Indem man sich einfach mal auf die richtige Seite stellt. Schließlich geht es hier um Werte.
Die [1][Polarisierung der Gesellschaft schreitet nahezu unaufhaltsam voran]. Landauf, landab wird ihre Spaltung als fast schon größtes Problem der Bundesrepublik gesehen. Da sind nicht nur die latent rechtsoffenen [2][Proteste der Bauern], die mit ihren Treckern am liebsten jede Ampel umnieten würden, nur um ein Zeichen gegen die Regierung zu setzen. Da ist vor allem der seit Monaten unaufhaltsam scheinende Aufwind für die rechtsextreme AfD, die laut Umfragen keineswegs nur im Osten extremen Zuspruch bekommt. Die dort aber, das kann längst nicht mehr ausgeschlossen werden, bei den Landtagswahlen im Spätsommer [3][sogar an die Macht kommen könnte]. Und das nicht trotz, sondern wegen ihrer keineswegs geheimen, sondern sehr offenen rassistischen und antihumanen Politik.
Ja, das stellt die Kuscheligkeit der Konsensrepublik Deutschland infrage. Das Sicherheit gebende Gefühl, dass sich alle politischen Lager trotz heftigster Dispute am Ende gegenseitig Raum zum Leben geben, scheint perdu.
Zwar gibt es Stimmen, die behaupten, dass der Graben noch längst nicht so tief ist, wie es in den erhitzten Debatten den Anschein hat. So hatte [4][der Soziologe Steffen Mau zusammen mit Kollegen im Herbst eine viel diskutierte Studie vorgelegt], laut der es zwar eine „zerklüftete Konfliktlandschaft“ gebe. Doch in Deutschland sei anders als etwa in den trumpisierten USA die Gesellschaft noch nicht unüberwindbar gespalten.
Nur, klingt das tatsächlich noch beruhigend? Nein. Denn angesichts der grenzenlosen Radikalität der Rechtsextremen kann es nicht mehr darum gehen, einzelne durch kluge Argumentation zurückzugewinnen. Es geht um die Frage, auf welcher Seite man steht.
Ums Ganze
Die Spaltung kommt ja nicht aus der Mitte der Gesellschaft. Es geht nicht um Debatten wie pro oder kontra Atomkraft, pro oder kontra Verkehrswende, pro oder kontra 3 Cent mehr für Bürgergeldempfänger:innen, über die man sich leidenschaftlich zerfetzen kann und muss. Es geht ums Ganze. Die Rechtsextremen haben die Axt an die Grundfesten der Gesellschaft angelegt. Nicht um sie zu verändern, sondern um sie und die ihr innewohnende Humanität zu zerstören. Da gibt es keinen Kompromiss mehr. Da gilt nur noch eins: Polarisiert euch!
Die [5][Enthüllungen der Rechercheplattform Correctiv], laut denen AfDler, Werteunion-Mitglieder und Rechtsidentitäre ganz offen von Deportation der ihnen nicht deutsch genug erscheinenden Menschen reden, haben zum Glück bei vielen das Fass zum Überlaufen gebracht. Seit letztem Wochenende gab es keinen Abend mehr, an dem nicht irgendwo Hunderte, Tausende oder wie in [6][Berlin, Potsdam] und [7][Köln] sogar Zehntausende auf die Straßen strömten, um gegen die AfD zu demonstrieren. Und die Protestwelle [8][wird in den kommenden Tagen weiterrollen]. Der [9][von verschiedenen Initiativen geplanten Großdemo am 3. Februar in Berlin] kann man nur eine überwältigende Teilnehmer:innenzahl wünschen.
Bei diesen Protesten geht es nicht mehr ums Überzeugen der anderen, sondern um Überzeugung. Es geht nicht darum, die am rechten Rand verirrten Schafe wieder einzusammeln, sondern Grenzen zu setzen. Kein Fußbreit! Nie wieder!
Verteidigung der Kuscheligkeit
Vor allem geht es um die Selbstvergewisserung einer hoffentlich sehr großen Mehrheit, dass sie genau das ist: eine sehr große, eine starke Mehrheit, die die demokratische Gesellschaft mit ihrer Kuscheligkeit verteidigen will.
Deshalb ist es auch kein Widerspruch, dass die Verteidiger der offenen Gesellschaft ernsthaft über die Anwendung der härtesten Mittel diskutieren. Ein [10][Verbot der AfD hat im Bundestag Befürworter aus allen seriösen Parteien]. Und fast 1,5 Millionen Menschen haben mittlerweile [11][eine Petition] unterzeichnet, laut der dem Nazi Björn Höcke Grundrechte wie das passive Wahlrecht entzogen werden sollen.
Solche Möglichkeiten sind kein [12][autoritäres Überbleibsel] aus unseligen Zeiten. [13][Im Gegenteil]. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sie angesichts unserer faschistischen Vergangenheit in die Verfassung geschrieben. Als Auftrag für Zeiten wie die heutigen.
In [14][diesem Grundgesetz] stehen trotz aller Änderungen auch immer noch die Werte, um die es jetzt geht: Die Würde des Menschen ist unantastbar! Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden! Politisch Verfolgte genießen Asylrecht!
Mit der entsprechenden Verve vorgetragen, klingen diese Artikel wie Kampfparolen. Wie ein Aufruf zur Polarisierung.
19 Jan 2024
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Gegen die AfD braucht es nachhaltiges Engagement, sagt Clara Seifert* von der Interventionistischen Linken. Die aktuellen Demos seien dafür zentral.
Seit einigen Monaten sitzen in Helsinki wieder Rechte mit am Regierungstisch. Das bekommen vor allem MigrantInnen zu spüren.
Stimmen aus Wirtschaft und Kultur warnen vor Rechtsextremismus und begrüßen die Demos. Politiker:innen bleiben gegenüber einem Verbot der AfD skeptisch.
Zehntausende gehen gegen den Faschismus auf die Straße. Um dessen Wurzeln zu beseitigen, sollte die Bewegung auch für Umverteilung streiten.
CDU, SPD, Grüne und Linke verlassen bei einer AfD-Rede aus Protest gegen Rechtsextremismus den Plenarsaal. Viel mehr Gemeinsamkeit gibt es aber nicht.
Nach dem geheimen „Remigrations“-Treffen rufen linke Gruppen im Norden zu Demonstrationen auf. Hamburgs AfD redet derweil die Ereignisse klein.