taz.de -- Jugendwort-Vorschlag offenbart Egoismus: Beleidigung mit existenzieller Tragik
NPC wurde als Jugendwort des Jahres vorgeschlagen. Es macht Menschen zu Nebencharakteren. Was lässt sich daraus für die Gesellschaft ableiten?
Beschwingt gehe ich durch die Straßen, habe ein geiles Outfit an, der Wind bläst mir durch die Haare, auf den Ohren gute Musik. Hier bin ich: [1][der main character,] die Protagonistin des Lebens. Und um mich herum hunderte Menschen, die das Gleiche fühlen und denken. Jeder hält alle anderen für NPCs.
Das Wort ist mit in der engeren Auswahl für das berüchtigte Jugendwort des Jahres. NPC bedeutet non-player-character, also Nicht-Spieler-Charakter. Der Begriff kommt aus der [2][Gaming-Welt] und meint die Figuren in Videospielen, die im Hintergrund rumstehen oder die man ansprechen kann, um die Handlung voranzutreiben.
Oft bewegen sie sich seltsam, laufen gegen Zäune oder verschwinden in Wänden: sie laggen, ihr minimalistischer Aktionsradius soll Prozessor-Kapazitäten einsparen. Jemanden NPC zu nennen, heißt also, dass man ihm keine Handlungsfähigkeit zuschreibt und einer zweitrangigen Kategorie zuordnet.
Den NPCs stehen die main characters gegenüber. Zwar nicht in der [3][Jugendwort-des-Jahres]-Auswahl vertreten, aber auch im Umlauf, beschreibt dieses Wort Menschen, die glauben, dass die anderen um sie herum nur existieren, um ihr eigenes Leben auszuschmücken. Einige Leute bezeichnen sich spielerisch selbst so, manche nutzen es als Beleidigung, um Egozentrismus anzuprangern.
Ziemlich kreative Beleidigungen, die die Jugend heute benutzt. Und ziemlich tiefgründig. Früher hat es maximal noch bis Hurensohn oder Opfer gereicht. Heute verbirgt sich eine ganze existenzielle Tragik hinter den Begriffen.
Etwas Hässliches
Man könnte denken, dass es eigentlich banal ist, sich selbst als main character seines Lebens zu bezeichnen. Die eigene Perspektive ist nun mal die einzige, die man einnehmen kann. Ihr ist man am nächsten. Und klar sind die anderen Leute NPCs: Ich kann sie nicht spielen, ihr Leben nicht leben.
Obwohl die einfallsreichen Beleidigungen fast bewundernswert sind, steckt auch Hässliches dahinter. Die Worte drängen die Frage auf, warum wir überhaupt in solchen Kategorien wie NPC und main character denken.
Das Ich isoliert sich immer mehr gegen das Außen. Man wächst auf und einem wird ständig suggeriert, dass ausgerechnet man selbst ganz, ganz besonders sei und dass man alles tun und lassen könne, was man will. Die individuellen Entscheidungen stehen über denen der Gemeinschaft, denn deren Meinung ist nebensächlich bis irrelevant. Und die neoliberale Peitsche treibt diese Individualisierung immer weiter voran. Sie macht uns im Grunde alle zu NPCs und belohnt gleichzeitig Main-character-Verhalten.
Menschen, die in individualistischen Gesellschaften leben, gelingt es oft nicht gut, Empathie für andere zu empfinden. Unsere Mitmenschen sind jetzt nicht mal mehr echte Personen, mit Überzeugungen, Wünschen, Ängsten und Hoffnungen, sondern nur Nebencharaktere, die die Handlung des eigenen Lebens anreichern.
Vielleicht ist es an der Zeit, das NPC-Sein mehr wertzuschätzen und wegzukommen vom selbstzentriertem Maincharactertum.
Wir sollten den Leuten, die uns umgeben, zutrauen, nicht nur Figuren zu sein, die stumpf durch die Gegend rennen und Statist_innen für einen selbst sind. Man sollte öfter selbst mal in die NPC-Rolle schlüpfen und den Komfort wahrnehmen, nicht im Vordergrund stehen zu müssen. Bis sich NPCs und main character weinend in den Armen liegen und merken, dass sie gar nicht so verschieden sind.
9 Aug 2023
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