taz.de -- Gehirnerschütterungen im Sport: Salto mortale

Dass Footballprofis Kopfverletzungen davontragen, ist bekannt. Aber Wasserspringer? Das Bewusstsein in den USA dafür wächst langsam.
Bild: „Hart wie Beton“: Die US-Athletin Kassidy Cook kennt die Gefahren des Wasserspringens

Wasserspringen ist in den USA ebenso beliebt wie Turnen, obwohl sich für beide Sportarten bei den Olympischen Spielen jeweils nur ein kleines Zeitfenster von zwei Wochen öffnet. Dann stehen wieder die Basketballer, Baseball- oder Eishockeyspieler im Mittelpunkt. Das Turmspringen wird spätestens seit den spektakulären Auftritten eines Greg Louganis in den Staaten als zirzensisches Spektakel mit hohem Unterhaltungswert angesehen, dabei hat der Sport eine dunkle Seite. Er ist gesundheitlich nicht unbedenklich, und in der amerikanischen Öffentlichkeit, die bereits aufgeschreckt worden ist von zahllosen Berichten über [1][hirngeschädigte Football-Spieler,] dringt das auch langsam durch.

Ein wahrlich düsteres Bild zeichnete vor einiger Zeit die Los Angeles Times, die eine Reihe von Risiken benannte: gebrochene Handgelenke, ausgekugelte Schultern, verdrehte Hälse und Ellbogen, geplatzte Trommelfelle, nicht zuletzt Gehirnerschütterungen und Lungenkontusionen, bei denen durch die Wucht des Aufpralls die Lunge gequetscht wird. Das ist nicht wirklich verwunderlich, knallen die Athletinnen und Athleten doch mit bis zu 80 Kilometern pro Stunde vom 10-Meter-Turm auf die Wasseroberfläche.

„Die Leute haben keine Ahnung“, sagt die ehemalige Olympiateilnehmerin Kassidy Cook in besagter Zeitung: „Wenn man auf das Wasser trifft, ist es für den Bruchteil einer Sekunde hart wie Beton, bevor man durchbricht.“ Viele Sportler tragen Handgelenksbandagen, stärken Rumpf- und Nackenmuskulatur massiv, doch die regelmäßigen Erschütterungen, die in der Eintauchphase nicht zu verhindern sind, wirkten wie die Kontakte bei Footballspielern, mahnen Sportmediziner. In der Summe könne das zu Schädigungen führen.

Eine Studie, die 2016 an der Universität von Iowa veröffentlicht wurde, verdeutlicht die Gefahren. Untersucht wurden studentische Sportlerinnen, die Salti und Schrauben drehen. Die Untersuchungsgruppe war mit 24 Teilnehmerinnen nicht sonderlich groß, nichtsdestotrotz lieferte sie ein verblüffendes Ergebnis: 54,2 Prozent der Sportlerinnen hatten bereits eine Gehirnerschütterung erlitten. Zum Vergleich: College-Sportler, die den harten Kontaktsport Football betreiben, erleiden offenbar weniger Gehirnerschütterungen als die Kolleginnen im Schwimmanzug.

Unfall am Turm

Etwa 5 bis 15 Prozent der Footballer erhalten in ihrer College-Karriere so eine Diagnose. 91,7 Prozent der Springerinnen, die einen Brummschädel hatten, klagten über Kopfschmerzen, ebenso viele über Schwindelgefühle. 75 Prozent gaben an, Probleme mit dem Gleichgewicht zu haben. Über 58 Prozent der Athletinnen meinten, wie „in einem Nebel“ zu stecken. Sehr viele Springerinnen litten zudem unter Konzentrationsproblemen.

Die Gehirnerschütterungen wurden bei zwei Springerinnen nicht erkannt, andere gingen viel zu spät zum Arzt, ließen im Schnitt zwölf Stunden verstreichen, bis sie Hilfe holten. Das alles spricht für ein nicht ausgeprägtes Diagnosesystem, eine Früherkennung, die mittlerweile in der NFL oder der NHL fest etabliert ist. Da wird bei einem Verdacht umgehend ein „Concussion Protocol“ geschrieben; Ärzte entscheiden nach Inaugenscheinnahme, ob der Sportler weitermachen kann oder pausieren muss.

Mitunter resultieren Gehirnerschütterungen auch aus dem Kontakt des Kopfs mit dem Brett oder der Plattform; eine Sportlerin berichtet in der Studie davon, dass ihre Gehirnerschütterung so zustande gekommen sei.

Den wohl tragischsten Unfall im Wasserspringen hat es 1983 bei der Universiade im kanadischen Edmonton gegeben, als der sowjetische Springer Sergei Chalibashvili mit dem Kopf an der Plattform aufschlug und bewusstlos ins Wasser klatschte. Der 21-Jährige fiel ins Koma und starb schließlich an Herzversagen. [2][Greg Louganis erlebte das damals hautnah mit]. Er erinnert sich: „Ich hatte eine Vorahnung. Ich wusste, dass etwas Schreckliches passiert war, als ich spürte, wie der Turm erzitterte. Ich hörte Schreie. Ich rannte zum Rand der Plattform und sah viel Blut im Pool.“

2011 ereilte die britische Springerin Monique Gladding fast das gleiche Schicksal. Sie stieß nach dem Absprung mit dem Kopf an die Plattform und stürzte ins Wasser. Betreuer kämpften am Beckenrand um Gladdings Leben. Sie überlebte.

24 Nov 2021

LINKS

[1] /Ex-Football-Profi-ueber-Kopfverletzungen/!5344422
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Greg_Louganis

AUTOREN

Markus Völker

TAGS

US-Sport
Kopfschmerzen
Weltmeisterschaft
American Pie
American Football
Kasan
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024

ARTIKEL ZUM THEMA

Wasserspringer bei der WM: Weltmeisterschaft als Zugabe

Die Wasserspringerin Tina Punzel will in Budapest von ihrer größeren Entspanntheit profitieren. Das Ziel ist wie bei Olympia eine Medaille.

Werbekampagne für Footballer: Muttertag in der NFL

In der ersten Playoff-Runde wird die Mutter der Footballprofis Travis und Jason Kelce zum Star. Sie sorgt für hollywoodreife Unterhaltung.

American Football in Berlin: Familienfest mit Gesundheitsrisiko

American Football erlebt in Deutschland einen Aufschwung. Auch hierzulande spielen Diskussionen um Verletzungensgefahren eine Rolle.

High Diving bei der Schwimm-WM: „Sterbe ich, kann ich nicht meckern“

Aus einer Höhe von fast 30 Metern stürzen sich die High Diver in einen Nebenfluss der Wolga. Das Spektakel hat es zur offiziellen WM-Disziplin geschafft.

Berliner Olympionikinnen: Ein eingesprungenes Team

Christin Steuer und Nora Subschinski werden sich in London synchron vom 10-Meter-Brett schrauben. Die eine gewann schon mit 16 Medaillen, die andere ist Spätzünderin. Das Randsportarten-Dasein nervt beide.