taz.de -- Nach dem Machtwechsel in Afghanistan: Taliban stellen Regierungschef vor
Mullah Mohammed Hassan Achund wird an der Spitze der Talibanregierung stehen. In Kabul haben die Islamisten Proteste Hunderter Menschen aufgelöst.
Dubai/Kabul/Genf epd/afp | Die radikalislamischen Taliban haben drei Wochen nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan erste Mitglieder ihrer Regierung vorgestellt. Mullah Mohammed Hassan Achund werde an der Spitze der neuen Regierung stehen, sagte Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid am Dienstag in Kabul. Taliban-Mitbegründer Abdul Ghani Baradar werde sein Stellvertreter.
Die Islamisten hatten die Bekanntgabe einer neuen afghanischen Regierung zuvor mehrfach verschoben. In den vergangenen Tagen protestierten zahlreiche Frauen unter anderem in Kabul für eine Beteiligung an der Regierung. Hunderte haben am Dienstag in Kabul auch gegen den Einfluss Pakistans auf das Land demonstriert. Die Protestierenden, [1][darunter viele Frauen], skandierten Rufe wie „Pakistan, verlasse Afghanistan“ und „Freiheit, Freiheit“, wie der afghanische TV-Sender Tolo News berichtete.
Taliban-Kämpfer hielten dem Sender zufolge [2][Medienvertreter] davon ab, die Proteste vor der pakistanischen Botschaft zu filmen. Ein Kameramann von Tolo News wurde demnach festgenommen und seine Kamera konfisziert. Die Menge zerstreute sich, nachdem die radikalislamischen Kämpfer in die Luft geschossen hatten.
[3][Pakistan hat großen Einfluss] auf eine wichtige Fraktion der Taliban-Führung. Am Samstag besuchte der Chef des pakistanischen Geheimdienstes ISI, Fais Hamid, Kabul, nachdem zuvor ein Versuch zu einer Regierungsbildung der Taliban gescheitert war. Vor mehr als drei Wochen hatten die Taliban Kabul erobert und die Macht in Afghanistan übernommen. Wegen offensichtlicher Streitigkeiten zwischen einzelnen Taliban-Fraktionen ist immer noch keine neue Regierung gebildet worden.
Derweil appellierten die UN eindringlich an die internationale Gemeinschaft, mehr Geld für die Versorgung der Menschen in Afghanistan bereitzustellen. Bis Ende des Jahres seien 606 Millionen US-Dollar (511 Millionen Euro) nötig, sagte der Sprecher des UN-Büros zur Koordinierung humanitärer Hilfe, Jens Laerke, in Genf. Bisher seien nur etwa 40 Prozent davon eingegangen. Die UN-Organisation hoffe auf die internationale Afghanistankonferenz am kommenden Montag.
Schulen im Fokus
Die UN und ihre Hilfswerke wie das Welternährungsprogramm wollten auch nach der Machtübernahme der radikalislamistischen Taliban in Afghanistan Mitte August der Bevölkerung beistehen, sagte der Sprecher. Die UN appellierten wiederholt an die Taliban, den Helfern uneingeschränkten Zugang zu den Menschen zu geben.
Rund die Hälfte der 38 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Afghanistans sind laut UN auf humanitäre Hilfe in Form von Lebensmitteln, Wasser oder Medikamenten angewiesen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung wisse nicht, wie es an die nächste Mahlzeit kommen soll.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch forderte unterdessen dringende Maßnahmen, um Schulkinder und Lehrerinnen und Lehrer in Afghanistan zu schützen. Während des Vormarsches der Taliban seien in den ersten sechs Monaten des Jahres etwa 40 Schulen mit Explosionswaffen angegriffen worden, erklärte die Organisation unter Berufung auf einen Bericht der Globalen Koalition zum Schutz der Bildung vor Angriffen.
Die meisten der über 185 getöteten oder verwundeten Schulkinder und Lehrkräfte seien weiblich gewesen. Von 2018 bis zur Jahresmitte 2021 habe es über 200 solcher Anschläge auf Bildungseinrichtungen gegeben, mehr als 600 Kinder und Lehrpersonen seien dabei verwundet oder getötet worden.
7 Sep 2021
LINKS
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Bei der Aufarbeitung des Einsatzes in Afghanistan sind Auftraggeber und Untersuchungsobjekt identisch. Es sind die Ampelparteien und die Union.
In Afghanistan müssen Demonstrationen und dort beabsichtigte Parolen ab jetzt von den Taliban genehmigt werden. Das Pandschirtal bleibt umkämpft.
Die neue Regierung in Afghanistan steht. Wo Taliban draufsteht, ist Taliban drin – und zwar zu 100 Prozent. Alles andere war nur dummes Geschwätz.
Afghanistans neue Regierung besteht nur aus Taliban-Führern. Keine Frauen, aber ein vom FBI gesuchter Terrorist als Innenminister.
Der Sieg der radikalen Islamisten stellt die globale Rolle der USA in Frage. Und hat immense Auswirkungen auf die Region – von der Türkei bis Indien.
Verhandlungen mit den Taliban? Nur wenn Frauen beteiligt sind und ihre Rechte gewahrt bleiben. Das sind wir den mutigen Demonstrantinnen schuldig.
Beim Familiennachzug aus Afghanistan verzichtet die Bundesregierung nun auf Sprachzertifikate. Trotzdem sollen alle vorher Deutsch lernen.