taz.de -- Offizier über Evakuierungseinsatz: „Überwältigt und verbittert“
Marcus Grotian engagiert sich für Ortskräfte in Afghanistan. Nun wirft der Bundeswehroffizier der Bundesregierung mutwilliges Versagen vor.
Berlin taz/afp | Der Soldat Marcus Grotian hält sein Smartphone in den Saal der Berliner Bundespressekonferenz. Er zeigt den JournalistInnen das Foto eines Babys. Das Kind sei im Juli geboren, die Eltern, beide im Besitz eines Visums, hätten wegen der Schwangerschaft vor der Geburt nicht ausreisen können. Jetzt sitze die Familie in Kabul fest, weil sie kein Visum für das Kind besorgen konnte. „Wir sind moralisch verletzt“, sagt Grotian. Nicht vom Vorgehen der Taliban, sondern von der Regierung. „Und das ist beschämend.“
Der Bundeswehroffizier Grotian ist der Vorsitzende des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte – und setzt sich seit Jahren für Menschen ein, die deutschen Behörden, Ministerien und der Bundeswehr in Afghanistan geholfen haben. Am Dienstag wirft Grotian der Bundesregierung mutwilliges Versagen bei der Rettung der ehemalige Mitarbeiter vor. „Wir sind überwältigt und verbittert in einem Maße, das wir nicht in Worte fassen können“, sagt Grotian.
Der Offizier richtet gleich mehrere Vorwürfe an deutsche Regierungsstellen: Sie hätten Warnungen vor der drohenden Machtübernahme der Taliban zu lange ignoriert. Er halte es für ein „Fiasko und Desaster in einem unvorstellbaren Ausmaß“, dass man Menschenleben in die Hände der Taliban gegeben habe – und nun hoffen müsse, möglichst viele rauszukriegen.
Außerdem hätten deutsche Behörden durch übermäßige Bürokratie gezielt versucht, die Zahl der nach Deutschland ausreisenden Ortskräfte möglichst niedrig zu halten. Mit „bürokratischen Tricks“ würden Menschen – auch heute noch – von Listen entfernt, sagt Grotian. Zudem gäben Regierungsstellen die Zahl der ausreiseberechtigten Ortskräfte viel zu niedrig an. Die von der Regierung genannten Zahlen von 2.500 ausreiseberechtigten Afghanen, von denen inzwischen 1.900 in Deutschland seien, seien „mitnichten richtig“, so Grotian. Sein Verein gehe von 8.000 Ausreiseberechtigten aus – ehemalige Ortskräfte samt Kernfamilien.
Untersuchungsausschuss gefordert
Zu den bürokratischen Hürden, die Grotian besonders kritisiert, zählt die Zweijahresfrist für Ortskräfte: Die Ausreiseberechtigung war zunächst nur solchen Ortskräften erteilt worden, die in den vorangegangenen zwei Jahren für deutsche Stellen in Afghanistan gearbeitet haben. Im Juni wurde die Regelung gelockert – die Befristung wurde gestrichen für Ortskräfte, die für die Bundeswehr oder andere deutsche Sicherheitsbehörden gearbeitet haben. Damit seien aber jene Ortskräfte ignoriert worden, die für andere Stellen gearbeitet haben, moniert Grotian. Er berichtete von einer Afghanin, die noch 2017 für die Entwicklungshilfeorganisation GIZ gearbeitet habe. Sie schaffte es in den vergangenen Tagen am Flughafen Kabul „bis zu deutschen Soldaten – und wurde dort abgewiesen“, weil sie nicht auf einer Ausreiseliste verzeichnet gewesen sei.
„Ortskräfte wurden abgelehnt, weil sie zur falschen Zeit fürs falsche Ministerium gearbeitet haben“, klagt Grotian. Seine Forderung sei, „alle, die für uns beschäftigt waren, nicht zurückzuweisen, sondern mitzunehmen“. Das von Grotian geleitete Netzwerk verfolgt das Ziel, die Ortskräfte bei ihrem Start in Deutschland zu unterstützen. „Wir tragen diese Verantwortung den Menschen gegenüber, die für uns und für unsere Ziele ihr Leben riskiert haben“, heißt es auf der Internetseite. Grüne, FDP und Linke fordern einen Untersuchungsausschuss nach der Bundestagswahl, der die Fehleinschätzungen der Regierung aufarbeiten soll. Jene hat eingestanden, dass sie vom Tempo der Machtübernahme der Taliban überrascht worden war.
24 Aug 2021
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