taz.de -- Sprechen über Corona: Wir sind nicht im Krieg

Wir müssen und sollten nicht vom Krieg sprechen, wenn wir die Coronakrise meinen. Denn die Rede vom Kriegszustand hat Nebenwirkungen.
Bild: 2021 ist auch ein neues Jahr, in dem wir angemessener über die Coronakrise sprechen könnten

Es ist jetzt 2021. Das heißt nicht nur, dass wir seit bald einem Jahr in einer Pandemie leben, sondern auch, dass wir genauso lange um Worte und Bilder ringen, um das zu beschreiben, was mit und wegen Covid passiert. Von [1][Krieg ist dabei oft die Rede]. Nicht nur, aber vor allem von Männern. Im März 2020 sagt Donald Trump: „We’re at war with an invisible enemy.“

Im November sagt Joe Biden: “We are at war with a virus, not with each other.“ Dazwischen spricht UN-Generalsekretär António Guterres vom Krieg gegen das Virus, genauso Emmanuel Macron und Xi Jinping. Die Bundesregierung produziert einen Videoclip, in dem ältere Versionen unserer Selbst aus der Zukunft auf die Pandemie blicken und über ihr heldenhaftes Nichtstun berichten, wie sonst Zeitzeug:innen in Dokus über den Zweiten Weltkrieg.

Die Menschheit im Krieg gegen ein tödliches Virus – die Sprache ist drastisch und militarisiert. Wir kämpfen jetzt an Fronten. Wir durchleben Traumata. Wir zählen Opfer. Wir erschaffen Held:innen. Auch die [2][Bundeskanzlerin nennt die Pandemie die größte Herausforderung seit Ende des Zweiten Weltkriegs]. Warum dasselbe nicht längst über die geistigen und strukturellen Hinterlassenschaften von Nazi-Deutschland gesagt wurde, bleibt ein Rätsel.

Brauchen wir das alles, um zu verstehen, wie ernst es ist? Der Kriegszustand ist schließlich der schlimmste, den man erzählen kann. Im Krieg verlieren Menschen alles: Geschichte, Gegenwart, Zukunft, Leben. Wenn also Krieg ist, zieht Dieter vielleicht ausnahmsweise beim Einkaufen ein Stück Stoff über Mund und Nase, obwohl es die größtmögliche Einschränkung seiner „Freiheit“ ist?

Krieg raubt Hoffnung

Ich fürchte das Herbeireden vom Kriegszustand und dessen Nebenwirkungen. Wer oft genug hört, wir seien im Krieg, verhält sich auch so. Krieg legitimiert Egoismus als Überlebenskampf, stärkt Nationalismus. Krieg erlaubt die Einschränkung von Grundrechten, Krieg macht müde und raubt Hoffnung.

Wir müssen nicht von Krieg sprechen, um zu beschreiben, wie dramatisch das alles ist. Die Pandemie mag eine globale Krise, ein Ausnahmezustand sein. Eine Zeit, in der wir neu lernen müssen, Grundbedürfnisse und -rechte von Privilegien zu unterscheiden, und die die Systemfehler stärker denn je offenlegt. Aber nur, weil diese Dinge auch im Krieg passieren, ist der Zustand nicht derselbe.

Die Sprache, mit der wir die Welt beschreiben, ist wichtig. Das gilt auch für ihre drängendsten Probleme. Die [3][Klimakrise ist dafür das beste Beispiel]. Wir haben von ihr zu lange als etwas Zukünftigem gesprochen. Jetzt ist es längst später, der Handlungsdruck ist immens, aber wir werden auch sie nicht mit dem Kriegsnarrativ lösen können.

Die Antwort auf Naturkatastrophen liegt nicht im Krieg des Menschen gegen die Natur. Sie liegt in der ehrlichen Verhandlung mit uns selbst, in einer kritischen Neubewertung und radikalen Änderung unserer Lebensweisen. Es ist jetzt 2021. Wir brauchen andere Dinge als Krieg.

6 Jan 2021

LINKS

[1] /Corona-Ausgangssperre-in-Frankreich/!5672039
[2] /Merkels-Fernsehansprache/!5672368
[3] /Auswirkungen-der-Klimakrise/!5734762

AUTOREN

Lin Hierse

TAGS

Kolumne Poetical Correctness
Schwerpunkt Coronavirus
Sprache
Kolumne Poetical Correctness
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Angela Merkel
Schwerpunkt Emmanuel Macron

ARTIKEL ZUM THEMA

Diskurse in der Krise: Wege aus der Gelatine

Die soziale, die ökologische, die pandemische, die diskursive Krise – alle brauchen eine neue Ehrlichkeit. Denn die Sprache hat sich abgenutzt.

Private Krankenversicherungen: Covid-19-Willkür in der Assekuranz

Ein positiver Coronatest könnte beim Abschluss einer privaten Kranken- oder Zusatzversicherung Probleme machen. Anbieter verfahren unterschiedlich.

Corona-Beschlüsse von Bund und Ländern: Auf Wiedersehen im Februar

Kanzlerin Merkel und die LänderchefInnen beschließen eine Verlängerung des Lockdowns bis Monatsende. In Corona-Hotspots wird der Bewegungsradius eingeschränkt.

Auswirkungen der Klimakrise: Sie macht uns alle krank

Zu heiß für die Menschen: Die Folgen der Erderhitzung werden die Gesundheitssysteme vieler Länder überlasten, warnt eine Studie.

Merkels Fernsehansprache: Letzte Warnung

Kanzlerin Merkel appelliert an die Solidarität der Deutschen. Sie spricht von der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.

Corona: Ausgangssperre in Frankreich: „Wir sind im Krieg“

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verkündet eine 14-tägige Ausgangssperre. Die Stichwahlen auf kommunaler Ebene sind auf unbestimmt verschoben.