taz.de -- Corona in Schweden: Sonderweg unter der Lupe

Eine Expert*innenkommission soll die coronabedingte erhöhte Sterblichkeit in einzelnen Bevölkerungsgruppen untersuchen.
Bild: Sommer in Schweden: Badestelle am See Malaren bei Stockholm

Stockholm taz | Schwedens rot-grüne Regierung hat eine Kommission eingesetzt, die den Umgang des Landes mit der [1][Coronapandemie] untersuchen soll. „Es wurden Mängel in unserer Gesellschaft offenbar“, erklärte Ministerpräsident Stefan Löfven am Dienstag zur Begründung. Zu viele Menschen seien gestorben. Man hoffe, „die Wahrheit über die zugrundeliegenden Ursachen“ herausfinden und „Lehren ziehen zu können“.

Der von dem ehemaligen Chef-Ombudsmann Mats Melin geleiteten Kommission gehören Expert*innen aus dem Gesundheits- und Pflegesektor, sowie Fachbereichen wie Verwaltungs- und Volkswirtschaft, Ethik und Krisenlehre an. Untersucht werden soll die Vorbereitung auf und die Handhabe der Pandemie durch die verantwortlichen Institutionen, Behörden, die Regierung sowie regionale und kommunale Selbstverwaltungsorgane.

Ein Schwerpunkt soll die Bewertung der Maßnahmen sein, die – auch im Vergleich zu anderen Ländern – zur Begrenzung der Ausbreitung des Virus getroffen wurden und welche Effekte diese auch konkret für spezielle gesellschaftliche Gruppen hatten. Dass es Schweden misslungen sei, vor allem Menschen aus Bevölkerungssegmenten ausreichend zu schützen, die man als Risikogruppen erkannt hatte, das, so Löfven „kann jeder sehen“.

Man habe nicht wirklich berücksichtigt, dass zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen das Risiko einer Ansteckung extrem variiere, meint Kristina Jakobsson, Professorin für Umwelt- und Arbeitsmedizin an der Universität Göteborg. Sie ist Mitverfasserin einer am Montag veröffentlichten Studie, wonach es in Schweden zwischen März und Mai keine erhöhte Sterblichkeit bei in Schweden oder in EU-Ländern geborenen Bürgern gegeben hat.

Beengte Wohnverhältnisse

Diese gab es aber bei in Asien oder Afrika geborenen Menschen. Und das gleich mit 220 Prozent. Dafür sei nicht das Geburtsland verantwortlich, sondern Faktoren wie beengte Wohnverhältnisse, beruflichbedingte viele soziale Kontakte und damit die Unmöglichkeit, Distanz zu halten.

Die [2][schwedische Strategie] sei davon ausgegangen, dass alle Menschen die gleichen Möglichkeiten hätten, sich zu schützen, meint Jakobsson. Dabei habe man entscheidende strukturelle Unterschiede übersehen. Die Wahlmöglichkeiten seien nicht gleich.

Es sei „nicht die Frage, ob sich Schweden verändern muss“, betonte Löfven, „sondern wie“. Man darf gespannt sein, welche Antworten die jetzt veranlasste Untersuchung liefern wird. Sie soll Ende Februar 2021 fertig sein. Ein halbes Jahr später findet die Parlamentswahl statt.

1 Jul 2020

LINKS

[1] /Corona-Eindaemmung-in-Schweden/!5679762
[2] /Schwedens-Umgang-mit-Corona/!5686514

AUTOREN

Reinhard Wolff

TAGS

Schweden
Schwerpunkt Coronavirus
Kommission
Schweden
Schwerpunkt Coronavirus
Schweden
Schwerpunkt Coronavirus
Schweden
Schweden

ARTIKEL ZUM THEMA

Schwedens Versäumnisse in Coronapandemie: Zu spät, zu lasch, zu unentschieden

Ein Untersuchungsbericht kritisiert die Strategie der schwedischen Regierung in der Pandemie. Alte Menschen seien unzureichend geschützt worden.

Corona in Schweden: Möglichst zu Hause bleiben

In Schweden sind für vier Wochen Veranstaltungen auf acht Personen begrenzt, aber nur im öffentlichen Raum. Viele zweifeln, ob das etwas bringt.

Maßnahmen gegen Corona: Schweden rüstet sich für den Herbst

In Schweden soll es bei lokalen Infektionsausbrüchen auch Maßnahmen geben, die bislang als unnötig galten. Doch Freiwilligkeit soll weiter gelten.

Schwedens Umgang mit Corona: Selbstkritik am Sonderweg

Schwedens Staatsepidemiologe stellt erstmals die Strategie des Landes infrage. Es seien zu viele Menschen zu früh gestorben, vor allem Ältere.

Corona-Eindämmung in Schweden: Holz- oder Königsweg?

In Schweden sind viele Menschen an Covid-19 gestorben. Doch die Regierung bleibt bei ihrem liberalen Kurs – und bekommt Lob von der WHO.

Schwedens Staatsepidemiologe Tegnell: Anders macht es anders

Anders Tegnell steuert Schwedens Kampf gegen Covid-19. Dabei weicht er vom Weg der europäischen Nachbarn ab.