taz.de -- Obercheckertum in Corona-Zeiten: Wirklichkeit war viel zu lange

Man will einfach nicht mehr an den Scheiß erinnert werden, dann geht der Scheiß schon von allein weg, oder? Jedenfalls trägt kaum jemand noch Maske.
Bild: Ausgediente Masken zieren in diesen Tagen das Straßenbild

Berlin atmet auf. Seit Corona hier spätestens durch die erfolgreichen Lockerungsmaßnahmen, offizielle wie inoffizielle, endgültig besiegt ist, jagt uns nur noch die verblassende Erinnerung daran einen angenehmen Schauder über den Rücken. Hier zeigt sich die altbekannte, halb empathische, halb hämische Hybris angesichts tödlicher Seuchen in zum Glück fernen und unterentwickelten Weltregionen (Manaus, Gütersloh), die das Exotische gleichzeitig verdammt, und vergöttert, bewundert und verachtet.

Diesen typischen Ausdruck postkolonialer Überlegenheit registriert man auch seit Längerem in Spätis. Dort sieht es wieder aus wie immer: Betreiber, Aushilfsbetreiber, Hilfsaushilfsbetreiber sowie deren Freunde und Verwandte stehen mit Inventar gewordenen Trinkerkunden dicht an dicht vor dem Eingang, im Eingang und im Laden herum. Es ist die urbane Form des Dorfplatzes. Man schwatzt, man lacht, man raucht. Und alles ohne Maske.

Als Kunde muss man sich da irgendwie so durchdrängeln. Und ich, der dabei noch immer eine Maske trägt, habe zuletzt zunehmend das Gefühl, dafür schräg angesehen zu werden. Ich bin ein Drosten-Jünger, Feigling, Dummkopf, Arschkriecher. Eine affige Heulsuse mit Maulkorb. Aber wenn sie so für Freiheit sind, warum verkaufen sie hier dann die ganzen AKP-Blätter?

Die sonst immer freundlichen Verkäufer sind mir gegenüber verschlossener geworden. Ihr Argwohn ist fast zu greifen. Man hat das Gefühl, man gilt als unwillkommener Sendbote aus einer anderen Zeit, ein Seuchenvogel, der Doktor mit der Schnabelmaske. Wir Maskenträger bereiten ihnen schlechte Gefühle, wir triggern sie allein durch unsere Erscheinung, denn wir gemahnen sie an die Wirklichkeit. Und die ist bei breiter werdenden Bevölkerungsschichten nicht mehr gern gesehen. Wirklichkeit war jetzt schon viel zu lange. Irgendwann muss es damit auch mal wieder gut sein.

Was wer schon wieder falsch macht

Die Spätis sind längst nicht allein. Die aktuelle Androhung eines Bußgelds für Mundschutzmuffel hat nichts daran geändert. Jeder kleine Laden hat sich nun zur coronafreien Zone erklärt. Man will einfach nicht mehr an den Scheiß erinnert werden, dann geht der Scheiß schon von allein weg.

So auch beim Bäcker. Zwei DHL-Mitarbeiter ohne Maske gucken mich an und tuscheln unverfroren. Dann starren sie mich ganz gezielt an, es soll wohl aufklärerisch spöttisch aussehen, doch es wirkt bloß unverschämt. Was ist denn überhaupt so schlimm an diesen Masken? Ist das dieses Casdorf’sche „Rabäh, ich esse meine Suppe nicht, ich wasche meine Hände nicht, ich hör auf meine Mutti nicht“? Ich selbst sage übrigens nichts dazu. Nicht im Laden und nicht im ÖPNV. Die Leute kennen auf der einen Seite die Gesetze und auf der anderen die Fakten, die sie kennen wollen. Daran ändere ich gar nichts.

Außerdem, nennt mich old school, aber ich finde es nicht höflich, fremden Erwachsenen in der Öffentlichkeit immer sofort aufs Auge zu drücken, was sie jetzt schon wieder falsch machen. Auch wenn das en vogue scheint. Da verschwendet zum Beispiel eine in einem Onlinekommentar sechs Zeilen für eine Zurechtweisung, weil jemand falsch gegendert habe, und verliert abschließend gerade noch zwei Worte zum Thema. Das Thema ist eh egal, Hauptsache, das eigene Obercheckertum wird transportiert.

Ein ehrliches Wort sehe ich eher für diejenigen reserviert, die ich gut kenne. „Du, hör mal, ich finde echt, das kannst du nicht bringen.“ Ein ehrliches Wort unter Freunden zeugt von Respekt, so wie eines unter Fremden, solange es nicht um Naziparolen oder Ähnliches geht, oft von Respektlosigkeit kündet. Aber das soll es wohl auch.

7 Jul 2020

AUTOREN

Uli Hannemann

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