taz.de -- Auf der rechten Seite blind
Niemand kann in vier Richtungen gleichzeitig gucken, auch Lkw-Fahrer nicht. Wenn sie rechts abbiegen, kann das für Radfahrer tödlich enden. Doch es gibt Ideen, um den Verkehr in Städten sicherer zu machen
Von Björn Struss
Fahrradfahren schont die Umwelt, hält fit und – kann tödlich sein. Gerade in Großstädten begegnen Radler vielen Gefahren, eine der größten sind rechts abbiegende Lkw. Als Unfallursache galt lange der tote Winkel, also der Bereich neben dem Fahrzeug, der weder durch die Spiegel noch durch den Blick des Fahrers aus dem Fenster einsehbar ist. An der rechten Lkw-Seite ist dieser Winkel besonders groß.
2007 hat die EU deshalb vorgeschrieben, dass neu zugelassene Lkw über 3,5 Tonnen mit zusätzlichen Spiegeln für eine lückenlose Sicht ausgestattet sein müssen. Seit März 2009 müssen auch früher zugelassene Lkw mit den Spiegeln nachgerüstet werden. Obwohl es bei richtig eingestellten Spiegeln deshalb praktisch keinen toten Winkel mehr gibt, kam es im Jahr 2016 durch rechts abbiegende Lkw in Deutschland zu 835 Unfällen, bei denen Menschen verletzt wurden.
Allein in Berlin starben zwischen 2008 und 2016 insgesamt 28 Radfahrer auf diese Weise. Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer, beschäftigt sich im Auftrag der deutschen Versicherungswirtschaft mit Verkehrsunfällen. Das Problem mit den vielen Spiegeln sei ein Informationsoverkill, sagt er. „Der Lkw-Fahrer muss vier Bilder zur selben Zeit beobachten. Das ist eine psychologische Überforderung.“
Der Lkw-Fahrer könne nur in eine Richtung gleichzeitig schauen. Doch im Blick behalten muss er die Front- und die Seitenscheiben, den Haupt- und den Weitwinkelspiegel sowie zwei weitere Spiegel, die den unteren Bereich vor und neben dem Fahrzeug einsehbar machen (in der Grafik nicht dargestellt). Doch es bleiben blinde Flecken.
„Die Gefahr entsteht dadurch, dass sich alle Verkehrsteilnehmer bewegen“, sagt Siegfried Brockmann. Dabei seien die Radfahrer, die mit dem Lkw auf das grüne Ampellicht warten, selten in Gefahr. „Radler, die aber später kommen, kann der Fahrer schwer einschätzen. Gerade wenn die Kabine schon eingeschlagen ist.“ Brockmann fordert deshalb Warnsysteme, die im Notfall automatisch bremsen.
Dafür braucht es aber kluge Sensoren, die einen Verkehrsteilnehmer von einer vorbeifliegenden Plastiktüte unterscheiden könnten. Erst seit einem halben Jahr bietet ein Hersteller ein derartiges Warnsystem an, bremsen kann es nicht.
Mit Kontrollaktionen versucht die Polizei immer wieder, auf gefährliches Abbiegeverhalten aufmerksam zu machen. Im Frühjahr 2016 wurden so in Berlin 470 Ordnungswidrigkeiten festgestellt. Ebenfalls im Visier der Polizei: Wimpel und Gardinen, mit denen manche Fahrer ihre Kabinen „verschönern“. Die sind nur erlaubt, wenn sie nicht die Sicht einschränken. Sonst droht ein Bußgeld von – Achtung – zehn Euro.
Martin Bullheller ist Sprecher des Bundesverbandes Güterverkehr, Logistik und Entsorgung. Der Verband vertritt knapp 7.000 Unternehmen. Bullheller setzt auf technische Lösungen: „Wir wollen einen Abbiegeassistenten, der bremst, wenn es nötig ist.“ Nur wäre ein solches System derzeit schlicht nicht zu haben.
Beim Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) kennt man die Debatte über das mangelhafte Angebot an elektronischen Warnsystemen. „Schon vor Jahren haben uns die Hersteller derartige Systeme präsentiert“, sagt Sprecher René Filippek. „Das ist wie die Frage nach der Henne und dem Ei.“ Werden keine guten Abbiegeassistenten angeboten, weil keine Nachfrage besteht? Oder fehlt die Nachfrage, weil es keine Assistenten auf dem Markt gibt?
Das Problem aus Herstellersicht ist, dass die Investition in sicherere Lkw für die einzelne Spedition zunächst Kosten produziert und einen Wettbewerbsnachteil bedeutet. Nur allgemein gültige Standards können das ausgleichen. Sie zwingen alle Unternehmen, Geld für die Sicherheit auszugeben. „Würde die Regierung ein Warnsystem vorschreiben, gäbe es schnell eine Riesenauswahl“, ist sich ADFC-Sprecher Filippek sicher.
21 Oct 2017