taz.de -- Praxistest: Nüchtern betrachtet
Es könnte so schön sein. Der Weihnachtsmarkt als Hort der Glückseligkeit. Aber gilt das auch für RollstuhlfahrerInnen?
Treffpunkt Weltzeituhr, Alexanderplatz, 19 Uhr. Die Saison ist eröffnet. Es ist Weihnachtsmarktzeit, und warum sollte man diese nicht auf einen der schönsten Plätze der Stadt mit Glühwein und Zuckerwatte beginnen? Oder gleich auf einem der größten Weihnachtsmärkte Berlins, hinter dem Einkaufszentrum Alexa? Unsere Challenge: Eine der beiden Freundinnen sitzt im Rollstuhl, und wir haben uns vorgenommen, nur da einen Glühwein zu trinken, wo man mit dem Rollstuhl barrierefrei herankommt.
Zu dritt, Hannah, Nicky und Andi, machen wir uns auf den Weg und sind schnell ernüchtert. Überall neu gebaute Stufen. Es ist absurd. Es werden schöne Weihnachtshütten aufgebaut, aber auch 2016 wird nicht daran gedacht, dass die Stufen von manchen Menschen nicht überwunden werden können. Hannah ist sportlich, hat einen schnellen Rollstuhl, aber dann kommt die nächste Kurve und ein Asphaltberg bremst sie aus.
Was soll das? Zwischen all den Menschen ist keine rollstuhlgerechte Trinkgelegenheit zu finden. Hier Geld auszugeben wird schwierig. Nach zehn Minuten ist der Spaß dann auch vorbei. Wir gehen.
Das Riesenrad ist rollstuhlgerecht
Luftlinie 500 Meter weiter: ein ganz anderes Bild. Keine laute Musik. Angenehme breite Gänge und die Büdchen fast auf Augenhöhe von Hannah. Stufen gibt es auch hier, aber auch einen Lichtblick: Das Riesenrad wurde als rollstuhlgerecht gekennzeichnet. Okay, es war nicht ganz so, sondern die Rollstuhlgerechtigkeit bestand darin, dass ein Mitarbeiter beim Stufenüberwinden hilft. Für elektrische Rollstühle wäre auch hier keine Möglichkeit gegeben mitzufahren und Berlin von oben zu sehen.
Ein anderer Lichtblick muss erst von der freundlichen Mitarbeiterin erleuchtet werden: Die einzige rollstuhlgerechte Toilette wurde aufgeschlossen und eine Lampe hineingehalten – ein unbeheiztes dunkles Dixiklo.
Juchuuh. Neben den sauberen Wassertoiletten, die nur über kleine Treppen erreichbar waren.
Irgendwann twitterte Andi: Wenn man mit Rollstuhlfahrer*innen auf dem Weihnachtsmarkt ist und nur da trinkt, wo es rollstuhlgerecht ist, bleibt man nüchtern.
Es wurde immer kälter und der Durst größer. Also Glühwein her. Wir brechen unsere Regel auf, kaufen an einem zu hohen Stand Glühwein und suchen uns einen Stehtisch aus. Wenigstens ist es schön hier – Prost!
Am roten Stehtisch fragt Hannah nachdenklich: „Wie viele Jahre wird es wohl dauern, bis jemand auf die Idee kommt, Rampen an die Buden zu bauen?“
2 Dec 2016
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