taz.de -- Wahrheit: Buchtiger Buchstabe
Literarische Lobpreisung ohne Vierten im Alphabet. Ein Essay über eine spielerische Art, sprachlichen Nonsens mit Hilfe einer Lücke zu verbreiten.
Wegen eines technischen Problems muss ein hier ursprünglich geplantes Essay zum heutigen 100. Geburtstag jener weltberühmten am 5. Februar 1916 im Züricher Cabaret Voltaire geborenen Kunstbewegung unglücklicherweise entfallen. Eine Bewegung zu lobpreisen, wenn ein wesentlicher Buchstabe fehlt, ist schier unmöglich, was bizarr klingt, sich aber ganz einfach erklären lässt.
Vor einem Jahr hatte unsere Zeitung für sämtliche Schriftleiter ein neues Arbeitssystem eingeführt, hierbei aber offenbar nicht genug finanzielle Ressourcen eingeplant. So hat man mengenmäßig zu wenig Buchstaben eingekauft. Setzt man nun wie heute bei einem wichtigen Jubiläum zu viele Buchstaben einer Sorte auf allen Seiten ein, bleibt zu guter Letzt für uns hier hinten im Ressort „Wahrheit“ natürlich keiner mehr übrig.
Also haben wir uns entschlossen, einfach zwei bis vier literarische Epochen zu überspringen, um lieber eine weitere progressive Literaturschule zu ehren: Oulipo – mit einem „Essay ohne vierten Buchstaben“.
Anarchistischer Nonsens
Beschäftigen wir uns also mit Oulipo sowie Georges Perec, jenem französischen Schriftsteller, welcher mit seinem revolutionären „Roman ohne e“ im Jahr 1969 versucht hat, aus einer formalistischen Strenge heraus jenen anarchistischen Nonsens einzufangen, welchen man mitten im Ersten Weltkrieg von Zürich aus in eine weltweite künstlerische Freiheit ohnegleichen entlassen hatte.
„Aber ist es nicht bloße Spielerei?“, hören wir bereits manchen politisch engagierten Leser aufheulen. Oh ja, es ist Spielerei! Aber ist Kunst nicht eben Kunst, ja gewinnt Literatur nicht ihre ureigenen Wirkkräfte allein aus allem Spiel wie Spaß?
Laurence Sterne hat es seine Hauptfigur Tristram in seinem ab 1759 erschienenen revolutionären Roman „Ansichten eines Gentlemans“ bereits erkennen lassen, wenn er über hobby horses sinniert: „Haben nicht weiseste Menschen aller Zeiten, Salomo selbst nicht ausgenommen, ihre hobby horses gehabt: ihre Renner, ihre Münzen wie Muscheln, ihre Trommeln wie Trompeten, ihre Geigen, Paletten, Raupen sowie Schmetterlinge? Solange einer sein hobby horse in Ruhe wie Stille auf offener Straße reitet, solange er nicht Sie noch mich zwingt, hinten aufzusteigen, – was in aller Welt, Sir, geht es Sie respektive mich schließlich an?“ Hobby horses stehen für hölzerne Hottehüs am Stecken, im Französischen ein Babylaut, ein Lallwort, mit welchem eben jene Züricher Künstler nicht nur ihre Bewegung betitelten, ja sogar spöttisch zum infantilen Spielzeug erklärten.
Gesammeltes Schweigen
Man nennt es Ironie, eine hohe Kunst, wie sie Heinrich Böll in seinem besten Stück beweist, wenn sein promovierter Protagonist Murke im Fünfziger-Jahre-Funkhaus „Gesammeltes Schweigen“ herstellt über „jenes höhere Wesen, welches wir verehren“. Statt Kunst zu vergöttern, verkleinert man sie scheinbar, formt eine Lücke, um sie aus gesellschaftlichen Zwängen entfliehen zu lassen.
Hier schließt sich ein Bogen von Kunst zu Politik, von Nonsens zu Brillanz – wie in unserem Essay. Hierfür brauchten wir nicht einmal jenen buchtigen Buchstaben, welcher vieles bestimmen will, gleichwohl oft genug Wesentliches verschleiert, somit Kern jener heutzutage gern zitierten „Lügenpresse“ ist. Wahrheit aber verlangt nach Fiktion – auch ohne jene ausgelassene Nummer vier im Alphabet.
5 Feb 2016
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