taz.de -- Demenz: "Neue menschliche Seinsweise"

Demenz gilt als kommende Geißel der alternden Gesellschaft. Doch das Vergessen muss kein Entsetzen auslösen, so Sozialpsychiater Dörner.
Bild: Das Jahrhundert der Dementen ausrufen: Nancy und Ronald Reagan im Jahr 2000

"Es ist, als hätte man sie in eine zweidimensionale Welt versetzt, ein Buch vielleicht, in dem sie nur auf dieser einen Seite existiert. Wird diese Seite umgeblättert, verschwindet alles, was darauf zu sehen war, aus dem Blickfeld." Die Welt aus Sicht einer Alzheimerkranken beschreibt Debra Dean in dem Roman "Palast der Erinnerungen".

Ihre Protagonistin Marina lebt nur im Moment und kann sich nur noch auf ihr Langzeitgedächtnis stützen, das vor allem aus Kriegserinnerungen besteht. Doch diese Reduktion bedeutet nicht nur Leiden: "Es ist ein angenehmes Gefühl, Wasser zu lassen, wenn man es so lange zurückgehalten hat.

Sie lauscht dem Plätschern und spürt, wie sich ein herrliches Gefühl der Entspannung in ihr breitmacht. Und wie schön es ist, an einem warmen und abgeschiedenen Platz zu sitzen, nicht in bitterer Kälte über einem Nachttopf zu kauern. Eine der Auswirkungen ihres Verfalls scheint zu sein, dass zwar ihre Aufmerksamkeitsspanne geringer wird, sie sich dadurch jedoch auch, wie durch eine Lupe, besser auf die kleineren Freuden und Genüsse des Lebens konzentriert, die ihr zuvor jahrelang entgangen waren."

Dass die Demenz, darunter besonders die Alzheimerkrankheit, nicht nur ein grausiger Abgrund ist, der das Selbst bei lebendigem Leib verschlingt, dürfte ein vergleichsweise neuer kultureller Ansatz sein. Bislang gilt die Altersverwirrtheit vor allem als Gefahr für unser Gesundheitssystem, als Finanzierungsproblem der Pflegeversicherung und als biografischer GAU, den besonders das Bildungsbürgertum fürchtet. Die Zahl der Demenzkranken wird schätzungsweise von heute 1,2 Millionen auf über 2 Millionen im Jahr 2050 steigen. Unsere Körper leben lang, aber das Gehirn macht der modernen Medizin eine lange Nase und verabschiedet sich vorzeitig. Mit dieser Kränkung muss eine Wissensgesellschaft umgehen lernen.

"Fremdartiger als alle Migranten, gleichwohl mit allen grundgesetzlich geschützten Rechten ausgestattet, sind wir ein neuer Teil von euch. Wenn ihr uns wirklich kennenlernen, uns nicht nur akzeptieren, sondern als Neuankömmlinge, dem medizinischen Fortschritt verdankt, uns begrüßen wollt, solltet ihr nach eurem vollmundigen Jahrhundert des Kindes das 21. Jahrhundert als das Jahrhundert der Dementen ausrufen", fordert der Sozialpsychiater Klaus Dörner aus einer fiktiven Perspektive der Altersverwirrten in seinem jetzt erschienenen Buch "Leben und Sterben, wo ich hingehöre" (Paranus-Verlag der Brücke Neumünster). Für Dörner ist die Demenz nicht nur Verfall, sondern eine "neue menschliche Seinsweise".

In den 70er-Jahren, zu Zeiten der Antipsychiatrie, erprobte man eine neue Sicht auf den Wahnsinn, um die Verrücktheit auch als kulturelles Phänomen, nicht nur als Abweichung von der Norm zu verstehen. Dörner wünscht sich ähnliche Versuche für die Altersverwirrten. "Wenn unsere Eigenart des Dementseins eine subjektiv genauso menschliche Seinsweise ist und genauso zum Menschsein gehört wie das Kindsein, das Erwachsenwerden oder das aktive Altsein, dann bestehen mit uns dieselben Verstehensmöglichkeiten wie mit anderen Menschen."

Das ist ja nun etwas viel verlangt, mögen Gesundheitspolitiker ausrufen, für die Demente vor allem ein Betreuungs- und Finanzierungsproblem darstellen. Alzheimer ist vor allem Leiden, werden Angehörige erzählen, die täglich erfahren, welche Ängste Demenzkranke durchmachen, weil sie sich nur noch schwer orientieren können. "Manchmal bin ich, und manchmal weiß ich nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, es kommt und es geht; ich weiß es nie genau; du bist nicht du; du hast jemanden anders in dir", schildert eine 76-jährige Frau, die das Frühstadium einer Demenz selbst erlebt, zitiert aus einem Papier der Angehörigenberatung e. V. in Nürnberg.

Rettende Fantasien

Doch ob sich das Erleben des Selbst und der Welt durch die Verwirrtheit durchgängig verdunkelt, ist nicht ausgemacht. "Meine Mutter ist weicher geworden, freundlicher, mit einer besonderen Art von Humor", beschreibt eine Tochter, deren 82-jährige Mutter nach einem Schlaganfall eine Demenz entwickelte. Die alte Dame, eine ehemalige Ärztin, fantasiert, dass in ihrem Seniorenheim Cousins und Neffen als Pflegepersonal tätig seien und sich ihrer annehmen. Schon eine herzliche Beziehung zu einer Krankenschwester kann das In-der-Welt-Sein mancher Altersverwirrten schlagartig verbessern.

Kulturhistorisch gesehen, löste das "Vergessen" ohnehin nicht nur Angst und Schrecken aus. Der Kulturwissenschaftler Harald Weinreich weist darauf hin, dass die "Selbstvergessenheit" in der Kunst sogar als etwas Positives gilt. In der griechischen Mythologie ist gar von einer "Kunst des Vergessens" , der Lethotechnik, die Rede, die auch dann eine Rolle spielt, wenn es darum geht, sich schlimmer Erinnerungen zu entledigen. Der Fluss Lethe, der mythische Strom des Vergessens, "erlaubte den Verstorbenen in der Unterwelt [] das Vergessen irdischer Sorgen", gibt der Demenzpsychiater Hans Förstl zu bedenken.

Dabei befinden sich Betroffene in prominenter Gesellschaft: Immanuel Kant war in seinen letzten Lebensjahren dement. Guy de Maupassant war altersverwirrt, auch Lenin büßte in Laufe seines Lebens stark an geistiger Leistungsfähigkeit ein. Das bekannteste Beispiel aus jüngerer Zeit ist der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan, der im Frühstadium seiner Alzheimererkrankung noch einen handgeschriebenen Abschiedsbrief "an alle Amerikaner" verfasste.

Dörner geht von der Faustregel aus, "dass es den helfenden oder pflegenden Angehörigen immer schlechter geht als dem Hilfsbedürftigen". Genau das aber ist das Problem. Ohne Betreuer können Altersverwirrte nicht leben.

Über die Zuteilung der Betreuung entbrennt daher ein erbitterter Streit, in dem sich Geld, Pflicht und Liebe ungut vermischen. Es ist kein Zufall, dass die Belastung oft auf die Schwächeren, nämlich die Frauen, die Töchter und Schwiegertöchter, verlagert wird. Vielerorts ginge ohne billige osteuropäische Pflegekräfte in den Haushalten gar nichts mehr.

Im "dritten Sozialraum"

Dörner schlägt vor, den "dritten Sozialraum", also Nachbarschaft und Gemeinde, als zusätzliches Hilfesystem zwischen Familie und Seniorenheim oder Pflege-WG zu aktivieren. So könnten Menschen im frühen Ruhestand den dementen Hochbetagten zur Seite stehen und damit ihr eigenes Leben wieder mit "Bedeutung für Andere" aufladen, schreibt Dörner.

Das mag utopisch klingen. Aber neue Lösungen werden dringend gesucht. Dazu gehören nicht nur ehrenamtliche Hilfesysteme, sondern auch Pflegewohngemeinschaften, eine Art "Stiftung Warentest" für Seniorenheime und legalisierte Formen, ausländische Pflegehelferinnen privat zu beschäftigen.

Demente wie bisher nur in oft schlecht versorgte Heimplätze abzuschieben, reicht jedenfalls nicht. Das verstärkt die Lebensangst der Mehrheit, irgendwann mal selbst betroffen zu sein, als Kranke oder als Angehörige.

Wohltuend ist ein weicherer Blick auf diese Seinsweise. Noch einmal Dean über ihre Protagonistin: "Einmal hat sie versucht, Dmitri die unendliche Schönheit zu vermitteln, die sie in ihrem Teeglas entdeckt hatte, eine goldfarbene Flüssigkeit, wie Bernstein mit winzigen glitzernden Einschlüssen aus Licht, die funkelten wie ein Regenbogen, wenn man sie in einem bestimmten Winkel hielt."

4 Sep 2007

AUTOREN

Barbara Dribbusch

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Altenpflege

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