taz.de -- Studie zu psychischen Erkrankungen: Weiblich, städtisch, depressiv

Arbeit macht krank. Aber nicht arbeiten macht auch nicht glücklich. Die Zahl der psychischen Erkrankungen ist stark gestiegen – vor allem im Dienstleistungssektor.
Bild: Werden fast doppelt so häufig psychisch krank wie Menschen, die in klassischen Arbeiterberufen arbeiten: TelefonistInnen oder SachbearbeiterInnen.

Sie sind eine Frau, leben in Hamburg oder Berlin und arbeiten in einem Callcenter? Dann haben Sie gute Chancen, demnächst depressiv zu werden. Oder Sie sind es schon. Spätestens aber dann, wenn Sie Ihren Job verlieren und einen Arzt haben, der Ihre Rückenschmerzen als das erkennt, was sie sind, nämlich Symptome einer psychischen Erkrankung, können Sie sich einreihen in das Heer der Menschen, die an der modernen Arbeitswelt leiden.

Die Anforderungen an die ArbeitnehmerInnen werden immer höher. Wenig Zeit für eine Vielzahl komplexer Aufgaben, ein geringer Einfluss auf den Arbeitsprozess, mangelnde Wertschätzung und schlechte Aufstiegschancen bestimmen den Alltag von immer mehr ArbeitnehmerInnen. Vor allem die zunehmende Angst vor dem Arbeitsplatzverlust verursacht Stress. Und wie eine am Dienstag vorgestellte Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPTK) zeigt, führt dies immer häufiger zu Depressionen.

Allein 2008 waren 11 Prozent der Fehltage auf Depressionen oder Anpassungsstörungen zurückzuführen - fast doppelt so viel wie noch 1990. Das liegt unter anderem daran, dass psychische Erkrankungen, wie Depressionen, Anpassungsstörungen oder Neurosen, sehr lange nicht ernst genommen wurden.

Auch die Dauer der Krankschreibung hat sich erhöht. Im Durchschnitt lassen sich ArbeitnehmerInnen wegen psychischer Belastungen zwischen drei und sechs Wochen krankschreiben, Erkrankungen im Verdauungs- oder Atemwegsbereich dauern dagegen nur sechs bis sieben Tage. Diese Entwicklung wird sich nach Einschätzung der Fachleute noch weiter verschärfen. Kein Wunder, dass die Krankenkassen alarmiert sind. Die Behandlungskosten für depressive Störungen in Deutschland betrugen 2004 rund 4,3 Milliarden Euro. Dazu drücken Ausgaben für Krankengeld, Lohnfortzahlung und vorzeitige Berentung auf die Kassen.

Die Depression greift um sich wie eine Epidemie. Aber wer ist eigentlich gefährdet? Zunächst einmal ist der Arbeitssektor ausschlaggebend: Haben Sie schon mal einen depressiven Förster getroffen? Oder einen neurotischen Landwirt? Nach Meinung der BPTK sind diese Berufsgruppen mehr in den Prozess ihrer Arbeit eingebunden, können unabhängiger über die Abläufe bestimmen. Dies trifft auf TelefonistInnen oder SachbearbeiterInnen weniger zu. Die werden fast doppelt so häufig psychisch krank wie Menschen, die in klassischen Arbeiterberufen arbeiten.

Auch der Wohnort spielt eine Rolle: In Ballungsräumen ist die Zahl psychischer Erkrankungen deutlich höher als in Flächenstaaten wie Thüringen oder Bayern. Die Stadt macht krank, ob das an der Einsamkeit in der Anonymität liegt oder an der erschöpfenden Reizüberflutung. Zudem flüchten depressive LandbewohnerInnen oft auch in die Städte, weil die Akzeptanz für Depressive hier größer ist.

Ferner leiden doppelt so viele Frauen wie Männer unter Depressionen oder Anpassungsstörungen. Das liegt auch an der fehlenden Akzeptanz der Krankheit: Depression ist noch immer ein Tabu, ein Zeichen für Schwäche und sogar Faulheit. Dann schon lieber ein Burn-out-Syndrom. Das steht für überarbeitete Workaholics, die für den beruflichen Erfolg noch das Letzte aus sich rausholen und dadurch Leistungsbereitschaft signalisieren. Entsprechend leidet dabei das Selbstwertgefühl nicht so massiv wie bei depressiven Menschen - und deshalb sind vor allem Arbeitslose betroffen von psychischen Erkrankungen.

Welche Wahl bleibt also? Selbstausbeutung oder bittersüßes Nichtstun? Auf jeden Fall: raus aufs Land!

24 Mar 2010

AUTOREN

Sunny Riedel

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