taz.de -- Kommentar Deutschland-England: Ohne Japsen bis zum Gipfel

Joachim Löws eigentlich doch viel zu junge Streichler und Trickser haben gerade noch rechtzeitig ihre Lust am Spielen wiedergefunden. Und können so die Sensation schaffen.
Bild: Okay, der war drin.

Liegt Philipp Lahm etwa falsch, wenn er behauptet, in der besten deutschen Nationmannschaft seiner Laufbahn zu stehen? Trug der Kapitän da zu dick auf, noch bevor die WM begann? Nicht wirklich, denn im Achtelfinalspiel gegen England konnte die DFB-Auswahl phasenweise da anknüpfen, wo sie gegen Australien aufgehört hatte: mit offensivem Kombinationsfußball, mit blitzgescheiten Pässen und kaltschnäuzigen Torschüssen. Sieben Spiele muss ein Team überstehen und das letzte davon logischerweise gewinnen, um Weltmeister zu werden.

Die Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw hat jetzt vier Matches hinter sich. Sie hat alle Chancen, denn wenn man Lahm Glauben schenkt, dann sind die Deutschen mit einem schlechteren Team 2008 Vizeeuropameister und mit einem ähnlich schlechten 2006 WM-Dritter geworden. Für einen Moment schien es, als könnte Lahms Topteam nur ein Trainingsweltmeister sein, denn gegen Serbien und Ghana stockte der Angriffsfluss ganz erheblich. Doch nach dem Sieg im Klassiker ist der Stau behoben. Es darf nun völlig befreit aufgespielt werden.

Das Aufkommen an Tricksern und Ballstreichlern ist hoch, tatsächlich viel höher als in den Jahren zuvor. Und endlich hat das Team auch wieder den nahtlosen Übergang vom unbeschwerten und hochklassigen Trainingskick in den Wettkampf gefunden. Wie nach dem Auftakt gegen die Australier wird nun alle Welt wieder behaupten, diese junge Mannschaft könne den Fußballgipfel erklimmen ohne einmal zu japsen. Der Weg in eine verheißungsvolle Zukunft scheint offen.

Wenn die Burschen um Marin, Müller, Özil, Kroos und Boateng so weiter machen, wer sollte sie dann noch aufhalten? Doch da sind schon noch ein paar Baustellen, auf denen zu arbeiten wäre: Die Abwehr zeigt sich unter großem Druck instabil. Zu oft wird das Spiel noch verschleppt. Es könnte trotz allem noch schneller und direkter gespielt werden. Die DFB-Auswahl wird auch nicht immer darauf vertrauen können, dass der Schiedsrichter auf einem Auge blind ist, ein klares Tor nicht anerkennt und die Geschehnisse von Wembley nach Bloemfontein verlegt.

Sie werden also weiter hart arbeiten müssen in den kommenden Tagen, an sich und ihrer Verfassung. Denn letztlich brillierte bislang vor allem das Mittelfeld. Im Sturm spielte nur Klose überzeugend und auch dessen Erfolgsquote ist noch verbesserungswürdig. Und die Abwehr wackelt, wie erwähnt, bisweilen gehörig. Joachim Löws Azubis wollen nichtsdestotrotz Geschichte schreiben. Als jüngstes Team, das im Durchschnitt nicht mal 25 Jahre alt ist, könnten sie jetzt Erinnerungen an 1990, 1974 und 1954 heraufbeschwören. Es geht darum, ob aus Philipp Lahms gefühltem Topteam ein echtes wird.

27 Jun 2010

AUTOREN

Markus Völker

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